Die Wahrheit: Verräter an der Führungskraft
Der Twitter-Chef Jack Dorsey tritt zurück, und der Aktienkurs steigt. Was macht eine solche Hausse mit einem armen Chef?
„Und dann kletterte das Plus in den zweistelligen Prozentbereich!“ Heribert Fieseler schnäuzt sich ausgiebig in ein Wertpapiertaschentuch. Der 54-jährige ehemalige Chef eines weltweit agierenden Herstellers von Badezusätzen ist völlig ausgelaugt, ein Häufchen Elend im Armani-Anzug. „Ein Rekordstand … “, schnauft er schwer und kauert sich auf seinem weißen Klappsessel zusammen. Kurz nachdem er seinen Rücktritt von der Spitze des börsennotierten Unternehmens „Wash-Wish:Soap-Hope“ bekannt gegeben hatte, stieg dessen Aktienkurs wie eine hochgepustete Seifenblase. Nun sitzt Heribert im Stuhlkreis der Selbsthilfegruppe „Anonyme Aktienkurssteigernde Abgänge“, kurz „AAA“ oder, wie sie selbst gern sagen: die „Triple-A-Gerateten“.
Als Apple-Chef Steve Jobs 2011 seinen Rückzug ankündigte, zeigte der Börsenkurs des Technologieriesens Anstand und brach um 6 Prozent ein. Auf die Abdankung Jeff Bezos’ in diesem Jahr reagierte die Amazon-Aktie mit einem Plus von 0,2 Prozent, also eher mit gelangweiltem Achselzucken. Doch der Abgang Jack Dorseys als Chef von Twitter ließ bei den Anlegern die Champagnerkorken knallen: Der Kurs schnellte – wenn auch nur kurz – um satte 11 Prozent nach oben.
Sales-Seelsorgerin Eleonore Rather hat diese Anlaufstelle für verzweifelte Topmanager, deren Kündigung die Börsen erst in freudentaumelnde Höhenflüge versetzte, ins Leben gerufen. Alle zwei Wochen trifft man sich in einem schlichten Gemeindezentrum im Frankfurter Bankenviertel, tauscht sich aus und spendet Trost. „Den kann man aber leider nicht als Spende von der Steuer absetzen“, stellt Organisatorin Rather klar und fügt hinzu: „Das werde ich nach den Sitzungen nämlich oft gefragt.“
Um die Hilfesuchenden optimal zu unterstützen, hat die diplomierte Ex-CEO-Betreuerin ihre therapeutischen Methoden an die Zielgruppe angepasst: „Identity Swaps“ (Rollenspiele), „Emotions-Insiderhandel“ (Selbstreflexionen), „Börsenprognosen“ (angeleitete Traumreisen) und absolutes „Börse vor acht“-Guckverbot.
Investoren ohne Pietät
„Pietät liegt bei den Investoren nicht im Trend“, erklärt in einer Sitzungspause Heidrun Hirdemann, „AAA“-Teilnehmerin der ersten Stunde. Eifrig räumt sie ein edles Porzellanservice auf einen Klapptisch. Seit Jahren organisiert sie für jedes Treffen ein kleines Kaffee-und-Kuchen-Warren-Buffett.
Als sich die 49-jährige Ex-Vorstandsvorsitzende vor fünf Jahren aus ihrem Unternehmen zurückzog, stieg der Aktienkurs der Firma explosionsartig. Die Gewinne waren so groß, dass der Vorstand ihr anbot, sie heimlich immer wieder anzustellen, damit sie mindestens einmal im Quartal zurücktreten könnte.
„Die meisten Trader – oder Traitor, wie ich diese Verräter nenne – kennen Anteilnahme bloß, wenn es um Firmenanteile geht.“ Gedankenverloren gießt sie Milch der Bullen-und-Bärenmarke in ihren Kaffee. Ihr ganzes Berufsleben habe sie dem undankbaren Shareholder-Pack in den Dividenden-Rachen geschoben. Heidrun Hirdemann stößt ein Seufzen aus, tief wie der Kurseinbruch am Schwarzen Freitag 1929. „Und am Ende bleibt einem nichts! Außer der millionenschweren Abfindung natürlich.“
Heribert Fieseler fühlt sich wie neugeboren. Fidel wippt der ehemalige Badezusatz-Entrepreneur auf seinem Klappsessel hin und her und ruft fröhlich aus: „Einst dachte ich ausschließlich in Kapitalkurven und Indexen. Aber mit diesem Markt-Mindset habe ich endgültig gebrochen. Heute weiß ich: Die Korrelation von Selbstwert und Börsenwert ist ein emotionaler Leerverkauf. Zukünftig werde ich mein Selbstvertrauens-Portfolio stark diversifizieren!“
Eleonore Rather ist sichtlich stolz. „Ich weiß, er redet immer noch Börsen-Bullshit-Blabla. Doch früher zeigte er seine Gefühle lediglich in Form von Kursdiagrammen. Das ist also ein Fortschritt oder, wie er es formulieren würde: ein steigender Trend mit positiver Prognose“, sagt Rather mit einem Augenrollen und beendet das Treffen der Selbsthilfegruppe „Anonyme Aktienkurssteigernde Abgänge“ für heute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja