Die Wahrheit: Die nackte Schulter des Sommers
Ein Phänomen der vergangenen Jahreszeit: die einseitige Entblößung junger Damen. Und die Erklärmaschine springt sofort an.
Es war dringend an der Zeit, dass es Herbst wurde. Mit der kühleren Jahreszeit verschwindet nun nämlich eines der rätselhaftesten Phänomene des Sommers, der in der andauernden Pandemie selbst ein merkwürdiges Zwischending war mit seiner kurzen Hitzeperiode und der langen Phase prasselnden Starkregens.
Erstmals fiel es auf, als eine Mutter mit ihrer pubertierenden Tochter die Straße entlanglief und überdrüssig mit den Augen rollte, weil die noch sehr junge Dame ihr dünnes Jäckchen immer wieder akkurat auf einer Seite herunterzog und ihre Schulter freimachte: Es war der Sommer der einseitigen Entblößung. Und das war offenbar sehr wichtig, zumindest für die Mädchen – nur eine nackte Schulter zu zeigen.
Neben den blanken Bauchnabeln und den freien Fußfesseln war die entblößte Schulter der letzte Schrei der auslaufenden Saison. Vermutlich hat die Sehenswürdigkeit irgendein Pop-sternchen hervorgebracht, das außerhalb des Teenagerkosmos niemand kennt, das aber bei den einschlägigen Sozialdiensten für Backfische milliardenhohe Zugriffe vorzeigen kann.
Kuss in der Zwischenzeit
Sofort rattert die innere Erklärmaschine los: In Zwischenzeiten wie den zwanziger Jahren taucht die nackte Schulter gern in der Damenmode auf. Schulterfrei zu gehen, bedeutet Entblößung und Zurückhaltung, Aufforderung und Einschränkung, Scham und Arroganz zugleich. Eine Stelle für den hingehauchten Kuss zu bieten, ist ebenso frivol wie unsicher. Und ausgerechnet das ist jetzt in MeToo-Zeiten wieder in Mode? Wenn verunsicherte Männer Signale kaum zu deuten wissen?
Für Pubertiere ist der Hauch von Sex in den Zwischenjahren wichtiges Element des andeutenden Ausprobierens. Ein ebenso ungefährlicher wie prickelnder Sport. Und dazu gehört die nackte Schulter, die Freiheit von Zwängen, aber auch Kälte symbolisieren kann, vor allem jedoch etwas Unerklärliches hat.
Nur die höheren Töchter und Söhne des Zeit-Magazins wussten die Zeichen der Zeit sofort konkret zu deuten. Die leichte Schulter sei der Look der Stunde, weil sie ein Symbol für die Impfung gegen Corona sei, heißt es. Wirklich? Ist das so öde und plump? Weil Menschen derzeit millionenfach eine Spritze in den Arm bekommen, laufen die jungen Mädchen mit einer entblößten Schulter herum?
Warum müssen die professionellen Erklärer immer allem den Reiz des Geheimnisvollen rauben? So soll der blanke Bauchnabel in der Mode ein Zeichen der jungen Weiblichkeit sein, mit dem älteren Frauen signalisiert wird, dieser Körper gebar noch nicht und ist deshalb sexy; während die freien Fußfesseln unter engen Hosenrändern selbst im eiskalten Winter älteren Damen die gesunde Widerstandsfähigkeit gegen leidige Blasenerkältungen demonstrieren sollen.
Warum kann nicht einfach etwas rätselhaft Schönes für sich stehen? Und durch das Verschwinden im Herbst in der Erinnerung zu etwas werden, was es tatsächlich ist: Nur ein unschuldiges Phänomen des Sommers, eine nackte Schulter.
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