Die Wahrheit: Was wird aus Mimi?
Dank neuester Forschungsmethoden werden Millionen Labortiere bald nicht mehr gebraucht. Doch wer denkt nun an die Leidtragenden?
Das Zauberwort der Stunde heißt „Organoide“. Was wie ein Begriff aus einem tschechoslowakischen Science-Fiction-Film der sechziger Jahre klingt, bezeichnet neuartige, in Forschungslaboren gezüchtete, menschliche „Mini-Organe“, an denen Medikamente und Kosmetika mittlerweile getestet werden können. Medikamente und Kosmetika, die bis dato an Tieren ausprobiert wurden. Allein in Deutschland waren Hunderttausende Laborhunde, -katzen, -kaninchen und -ratten nur für diesen Zweck da.
„Na, tolle Wurst“, knurrt Ex-Labor-Beagle Bella, sieben Jahre alt, während sie ihr Körbchen voller Habseligkeiten aus dem Forschungstrakt der Tierärztlichen Hochschule Hannover schleppt. „Mit uns kann man es ja machen!“ Ein letzter, elegischer Blick auf die silbergraue Labortür, die sich in diesem Moment für die altgediente Probandin für immer schließt.
Insbesondere den geregelten Tagesablauf und die angenehme Dauermedikation wird sie sehr vermissen. Bella friemelt einen metallenen Chip aus ihrem linken Innenohr, pfeffert ihn wütend auf die Straße. Zukunftspläne hat sie noch keine. Zunächst hatte sie gehofft, sich auf Freelancer-Basis als „Coronahund“ verdingen und Covid-19-Infektionen erschnüffeln zu können – eine Fähigkeit, die gerade schwer gesucht wird. Aber aufgrund zahlloser Arzneimitteltests ist ihr Geruchssinn leider „völlig im Arsch“. Ziellos hinkt die Grande Dame der deutschen Beagleforschung von dannen.
Und mit ihr Tausende weitere Labortiere, die niemand je mehr braucht. Viele stehen auf der Straße. Andere liegen dort, wie 37 geschasste Laborschlangen aus dem Hause der Beiersdorf AG. Aus selbigem Werkstor humpelt ein Meerschweinchen, ein Köfferchen zwischen den Pfoten. Seinen Namen will es nicht nennen, weil es gar keinen hat. Auch sonst gibt es sich erst mal sprachlos.
Desorientiert wie Biberkopf
„Mir fehlen die Worte. Ich weiß gerade nicht, wohin mit meinen Gefühlen!“ Dann äußert es sich aber doch. Das Meerschweinchen erzählt, es fühle sich zurzeit „so planlos, so desorientiert wie vor Jahren die Schlecker-Frauen oder Franz Biberkopf in ‚Berlin Alexanderplatz‘ “, der einst jäh in die Freiheit gestoßen wurde. „Ein Roman, den ich übrigens sehr schätze, allein wegen dem sexy Biberkopf“, bekennt die Meerschweinchendame, die sich jetzt doch als Mimi zu erkennen gibt. Anders als die Hundedame hatte sie jedoch einen richtigen Arbeitsvertrag, kann sich über eine saftige Abfindung freuen. „Drei Karotten und ein Trockenschnitzel, das ist nicht nichts!“
Was die Zukunft bringt, wie es weitergeht, können die meisten Ex-Labortiere noch nicht sagen. Erst mal verschnaufen, saufen, bei Zeitarbeitsfirmen anklopfen, ist aus vielen Mäulern und Schnauzen zu hören. Eines ist jedoch wahrscheinlich: Geld vom Staat wird es vermutlich keines geben.
Das darf nicht so bleiben, findet der arbeitslose Laborkater Carlo, der ein bedingungsloses Grundeinkommen für gefeuerte Forschungstiere fordert. Und, ganz generell, um gesellschaftliche Anerkennung kämpft. Schließlich hat er für dieses Land so einiges geleistet.
Stolz wie ein Labortier
„Ich sage nur, sieben Jahre Boehringer Ingelheim, in der Grundlagenforschung – der elementarsten, essenziellsten Forschungsrichtung von allen“, erinnert er sich nicht ohne Stolz. Die Arbeitskämpfe der letzten Wochen hätten ihn und andere „ganz schön politisiert“. Und nicht nur die Tiere hierzulande. In England etwa, das in seinen Forschungsstätten ebenfalls auf Organoide setzt, hätten sich Hunderttausende „freigestellte“ Ex-Labortiere bereits der radikalen Labor-Partei angeschlossen.
Was soll aus all den nutzlosen Nutztieren werden? „Also, ich werde bildende Künstlerin“, meldet sich ein Laborfrettchen namens Labora IV, bis vor Kurzem tätig im LMU München. Den weit grassierenden Pessimismus ihrer Ex-Kollegen mag sie beileibe nicht teilen.
„Man kann nicht immer nur den mehrfach operierten Kopf hängen lassen, sich als Spielball der Zeitläufte fühlen. Man muss auch mal was wagen!“ Wenn es mit der Kunst nicht klappt, könne sie vielleicht auch umschulen. „Zum Beispiel auf Schlachtkaninchen“, grübelt sie.
Was sie noch nicht weiß: Auch die Fleischbranche könnte es demnächst bitter treffen. Seit das von Veganern gefeierte „Laborfleisch“ international auf dem Vormarsch ist, geht unter Millionen deutschen Nutztieren die Angst vor Arbeitslosigkeit um, schon jetzt. 60 Millionen Hühner, 25 Millionen Schweine, 11 Millionen Rinder, 150.000 Kaninchen und 350 Waschbären für ein paar perverse Leckermäuler stehen vor dem Aus. Was das für den sozialen Frieden, ja die Zukunft unseres Sozialstaats bedeutet, ist noch gar nicht abzusehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei