Die Wahrheit: Tot überm Zaun

Sterben möchte man in wenig gelittenen Ortschaften nicht gerade. Aber wozu gibt es sonst beispielsweise das niedersächsische Seesen?

Nach sehr langer Zeit vernahm ich jüngst mal wieder die Redewendung „Da willst du auch nicht tot überm Zaun hängen“. Während der Hochphase der Pandemie hatte man wenig Kontakt mit Leuten, die einen hätten volllabern können, kaum jemand kam rum, weshalb Geschichten über entlegene, wenig wohlgelittene Ortschaften selten zu hören waren. Doch jetzt, da unser Leben sich lockerer gestaltet, gewahrt man Zaunhänger-Sätze wieder.

Soweit ich mich erinnere, hatte sich der 20.000-Einwohner-Ort Seesen in Niedersachsen zum Sujet des Tischgesprächs aufgeschwungen. Dass ich mich nicht so recht entsinne, liegt daran, dass ich in Gedanken verreiste und den Plappernden nicht länger folgte, als ebenjene Formulierung zu hören war: „Da willst du auch nicht tot überm Zaun hängen.“ Wo, dachte ich, würde man das wohl gern tun?

Populäre Urlaubsgebiete kamen mir in den Sinn: Mallorca, Hawaii, Chemnitz. Hinge man in so einer Gegend tot überm Zaun, bescherte man den dort ihre Ferien Verbringenden ein unvergessliches Erlebnis: „Weißt du noch, zwanzigeinundzwanzig auf Mallorca, als der Typ da tot überm Zaun hing?“, blökten sie sich noch Jahrzehnte später bei alkoholfreiem Wein und E-Zigaretten zu und schüttelten prustend ihr Haupt. All jenen, die zu der Zeit nicht auf Mallorca, nun aber Teil der heiteren Runde waren, müssten sie die makabre Angelegenheit selbstredend erzählen: „Der Torsten kommt gerade vom Strandkiosk, zwei Bier in der Hand, und sagt zu mir: Du, ich glaub, da drüben hängt einer tot überm Zaun.“

„Und was habt ihr dann mit dem gemacht?!“, riefe großäugig eine Dame, die Torsten und den Rest der Clique erst zwanzigzweiundzwanzig kennengelernt hatte. „Zum Glück kam ungefähr zeitgleich schon ein spanischer Polizist vorbei, der bereits informiert worden war“, würde Torsten erläutern und trocken schließen: „Wir haben dann einfach unser Bier getrunken.“

Anderen eine solche Anekdote qua eigenen Hinschieds zu schenken, das ist eine selbstlose Tat, die einem im Jenseits bei der großen Abrechnung ein paar Pluspunkte beschert und manche Schandtat aufwiegt. Aber wer ist schon ein derartiger Altruist, dass er sich selbst tot übern Zaun hinge, nur um einem völlig fremden Torsten eine Geschichte zu spendieren, mit der er dann regelmäßig seine minderbemittelte Entourage entertainen kann? Ich sicher nicht.

Auf Mallorca und anderswo hinge ich demnach nicht gern tot überm Zaun. Das haben Honolulu, Palma und Seesen also schon mal gemein. Gut möglich, dass sich aus diesem Umstand interessante Marketingoptionen für die niedersächsische Perle am Harzrand ergeben: „Seesen – hier willst du, wie auch in Honolulu und Palma, nicht tot überm Zaun hängen.“ So ein Slogan sorgte garantiert für Aufmerksamkeit und Tourismus, die Stadt würde aufblühen – und, wer weiß, somit eines Tages vielleicht sogar zu einem Ort avancieren, an dem man tot überm Zaun hängen will.

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Cornelius W. M. Oettle kam in der kältesten Novembernacht des Jahres 1991 in Stuttgart zur Welt und weiß nicht, warum. Zur Überbrückung seiner Lebenszeit schreibt er als freier Autor für alle, die sich ihn leisten können. Seine Tweets aber sind und bleiben gratis.

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kari

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