Die Wahrheit: Abschied von Mitte
Niemals geht man so ganz: Was von meinen Jahren in der Hauptstadt übrig bleibt. Ein sentimentaler Blick zurück ohne Zorn.
Manchmal, wenn ich ZDF-Nachrichten gucke, hör ich meine alte, ebenda gelandete Bekannte Inken berichten, und dann muss ich daran denken, wie wir früher immer den Witz machten, man müsse beizeiten mal „nach Mitte“, denn wer nicht „in Mitte“ lebe, der lebe praktisch gar nicht.
Vermutlich lebt Inken jetzt in Wiesbaden, und ich, wo lebe ich? In Mitte. Beziehungsweise bald ja nicht mehr, weil ich weg muss, wieder mal, denn Leben, wusste Benn, ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn; oder, in meiner Version: ist Löcher in Wände dübeln, die bloß gemietet sind.
Also wieder den Umzugslaster bestellen und den Sperrmüll planen und die Regalmeter überschlagen und bei all dem den Gedanken haben, dass man lang nicht mehr wo so lange war, wie man in Mitte gewesen ist; und dass man da, wo man hingeht, das alles wohl vermissen wird: das Bunte, das Treiben, die Geschäfte, die Tätowierungen – schön, die nicht, und die gibt’s ja auch längst überall. Auf dem Fernsehturm waren wir nie, und der Alex ist Nachbarschaft.
Nie mehr U-Bahn fahren
Und jetzt also: fort. Wir werden nicht mehr U-Bahn fahren, weil es am neuen Wohnort keine gibt, und wir werden uns nicht mehr zwischen Rewe, Edeka, Bio- und Lose-Laden entscheiden müssen, weil es das am neuen Wohnort auch nicht gibt. Es gibt einen Aldi, und der ist nicht mal um die Ecke. Mit Glück fehlen dann allerdings die Leute, die ihre Sätze mit „geil“ und „witzig“ füllen, wobei „witzig“ nur die Frauen sagen, und zwar auf so eine verstörend dumme Weise, die klingt wie „witzäääg“. Die stehen dann in der Kinderboutique und sagen: „Das Kleid für die Tilly ist ja voll witzäääg!“, und die Verkäuferin so: „Ja, voll geil!“ Und kratzt sich ihre frische, hochgradig individuelle Tätowierung. Da denkt man dann immer, dass es irgendwann mit Mitte auch mal genug ist, und ich hoffe, dass ich das auch noch denke, wenn ich im Aldi stehe und niemand was witzäääg findet, weil witzäääge Dinge im Aldi traditionell unbekannt sind.
Wir hätten pendeln können, wie so viele. Aus Berlin gehen Leute ja grundsätzlich nicht weg, selbst wenn sie einen Job haben in Garmisch oder Oslo, die pendeln dann natürlich. Solche Leute fand ich immer lächerlich, und jetzt haben wir selbst diskutiert, halbe Abende durch, ob ein Leben lang Mitte die Fernehe lohnt. Also: Zusammen in Sonstwo, oder nur mehr halb zusammen in Mitte. Wo man den Laden kennt, genauer: die Läden; wo ich meinem (tätowierten) Friseur durchs Schaufenster zuwinke und seinem Chef und dessen Frau, dann die Padrona von der Pizzeria grüße, in der ich seit Jahren nicht mehr war, sowie den Apotheker, alle drei Buchhändlerinnen aus der Buchhandlung nebenan und den (tätowierten) Schuster, den ich, bevor Corona anfing, um Schamhaaresbreite in der Dusche vom Fitnessstudio verpasst habe, zur unserer beider grenzenlosen Erleichterung.
Eine letztes Mal Currywurst
Was ich noch tun muss, bevor ich gehe? Ich könnte noch mal die U-Bahn nehmen und flexitarisch Currywurst essen, die berühmte aus dem Laden, den ich, aus Schleichwerbevermeidungsgründen einer- und Bekanntheitsgründen andererseits, hier nur „-ke“ nennen will; könnte noch mal den ewigen Hundehaufen ausweichen und unter den Lindenern spazieren gehen oder auf der Friedrichstraße; wobei, was soll ich in Wettbergen, war ich doch sechs Jahre nicht, und warum auch.
Also lieber nach gegenüber zu Eva und Alex, zum Frühstück auf ihrer Terrasse, und sicher noch mal ins – ich sag’s jetzt doch, ich muss es sagen! – „Plümecke“ zur, wie man so sagt, besten Currywurst der Stadt, auch wenn das gar nicht mehr in Linden-Mitte ist, dem grundsympathischen, links- bis zeitgemäß rechtsgrünen, nicht unversifften Bauchstück von Linden, Trendbezirk Number one der schönsten Hauptstadt von Niedersachsen, Hannover.
Und dass der Fernsehturm hier „Telemax“ heißt, weiß ich jetzt auch.
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