Die Wahrheit: Auf der Todesinsel
Eine Fahrt zum Eiland der Reichen und Blöden. Mit Kollegin und Hindernissen. Bis zum endgültigen Ziel – der Fußgängerzone des Grauens.
D er heimliche Plan der taz-Wahrheit – neben der Übernahme der Weltherrschaft – ist die Gründung einer Geriatrie-WG, natürlich erst in einigen Jahrzehnten. Aber: Werden sich die genialen Top-Individualistinnen überhaupt verstehen? Sollte es nicht einen Probelauf geben? Jedenfalls einen gemeinsamen Urlaub? Zunächst zu zweit?
Gemeinsam mit einer Wahrheit-Kolumnista, die ich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes hier nur Pia F. nennen möchte, startete ich also in höherem Auftrag auf die Insel der Reichen und Blöden. Das heißt, ich wäre gern gestartet, aber die von mir überaus geschätzte Reisegenossin hatte schon zu Beginn der Fahrt das erste Abenteuer im Sinn und den Parkschein im Auto liegen lassen. Ohne kam man nicht ins Parkhaus. Wir lagen uns lachend in den Armen und riefen Sätze, die wir niemals schreiben würden: Das fängt ja gut an! Was tun wir jetzt!
Auch Genies sind manchmal alltagstauglich, können Parkhausmitarbeiter anfunken und niedliche kleine Autos befreien. Überraschenderweise gelang es uns also, loszufahren. Unterwegs riefen wir Sätze, die wir niemals schreiben würden: Guck mal, ne Kuh! Wie grün das hier ist! Warum regnet es nicht! Ich will sofort ein Fischbrötchen!
Von meiner allerheimlichsten Mission verriet ich Pia F. aber erst etwas, als wir schon auf „der Insel“ waren und uns prächtig erholten: Weil ich vor 50 oder 100 Jahren schon mal hier war, wollte ich unbedingt in die Fußgängerzone des Grauens in Westerland. Pia F. wusste das zu vereiteln, da sie ahnte, dass man dort sofort vom Schlag getroffen wird und nicht mehr dieselbe ist. Das war ich aber schon vorher nicht mehr, weshalb ich während des täglichen gemeinsamen Porschezählens Sätze greinte, die ich niemals schreiben würde: Da haben mir meine Eltern einen Pullover gekauft! Da sind wir nicht ins Lokal gegangen, weil es zu teuer war!
Pia F. dagegen hatte andere Themen. Sie war ebenfalls auf der Suche, aber nach dem Schrebergarten des Freundes des Kochs des Restaurants, in dem sie eventuell essen wollen würde, denn der hatte da sein Gemüse selbst gezogen. Vor drei, 50 oder 100 Jahren. Das war hier! Das muss hier sein!
Am Ende des Urlaubs zog ich meinen Rollkoffer allein durch die betonverseuchte, filialistendurchsetzte Westerländer Todesschlucht, während Pia F. versuchte, den Autozug zu finden. Es schien mir zwar unmöglich, dass sie so etwas Praktisches ohne meine Assistenz in den nächsten 50 oder 100 Jahren zustande bringen könnte, weshalb ich sie schon am Vortag versehentlich in eine ganz falsche Richtung gelotst hatte (Fußgängerzone).
Aber am Ende schaffte sie es doch, während mir zwischen Konzertmuschel und Hotelhochhaus das lähmende Gift der Hässlichkeit durch die Augen in den Körper sickerte. Ich stürzte mich samt Gepäck in die Nordsee. Die Weltherrschaft saß auf der Promenade und kicherte dazu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland