Die Wahrheit: Was die Alraunen raunen
Pflanzenorakel sind bei Menschen vor allem in Liebesdingen beliebt. Bei Pflanzen und ihren Fürsprechern eher nicht.
Im Umfeld der gerade beendeten Fußball-Europameisterschaft wurden wieder jede Menge tierische Orakel an den felligen Haaren ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Doch verblüffenderweise hat niemand auf das älteste Mittel der Vorhersage zurückgegriffen: die Pflanzen. Zu deren Glück! Denn schon immer ging es ihnen unter den menschlichen Propheten schlecht.
Wenn Abrupftrieb und Aberglauben zusammenkommen, leidet die Pflanze! Ein unheilvoller Trieb nämlich zwingt den Menschen, unter ständigem Murmeln Pflanzenteile abzureißen: „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht …“ Die gerupfte Pflanze, sie hasst dich, sie hasst dich noch mehr, über alle Maßen, warum kannst du’s nicht einfach lassen? Der kultivierte Mensch sollte seine Frage einfach auszählen und das Liebesorakel rechnerisch lösen.
Das fordern zumindest die seit Jahrhunderten tätigen Hexen für den Pflanzenfrieden, die natürlich auch alle Varianten des gerupften Liebesorakels kennen, sogar die schwarze Variante: „Ledig sein, Hochzeit han, ins Klösterle gehn, am Ende schwarzer Schrein.“
Pflanzenethisch korrekt ist dagegen das Vielliebchenessen, bei dem nur reife Haselnüsse geknackt werden. Hat eine Nuss zwei Kerne, isst das Mädchen einen und lässt sich den anderen vom Jüngling von den Lippen küssen. Das ist die beste Methode, spielerisch herauszufinden, ob dieser an einer Haselnussallergie leidet und als Partner infrage kommt.
Gepresstes Kleeblatt
Der Klassiker unter den Pflanzenorakeln ist das Vierblättrige-Kleeblatt-Suchen. Ist eines gefunden, wird es umstandslos ausgerissen, in einem dicken Buch gepresst und dann vergessen. Die Hexen für botanische Nachhaltigkeit sind natürlich mit solch einer Tortur nicht einverstanden. Warum können die ehrlichen Finder und Finderinnen das Kleeblatt nicht einfach fotografieren oder besser noch abzeichnen, anstatt es zu mumifizieren und zu krümelifizieren?
Klüger ist es ohnehin, das gefundene Kleeblatt einem anderen Menschen in die Schuhe zu schieben, denn dieser muss fortan hinter dem In-den-Schuh-Schieber herlaufen. Das prophezeien jedenfalls die klugen Alraunen von alters her. Die Gewürzbordindustrie schwört hingegen auf die Wirkung von Rosmarin, Liebstöckel und Dill, es heißt ja nach dem Verzehr, es verliebt sich der Partner oder er macht, was er will.
William Shakespeare empfiehlt als pflanzlichen Liebeszauber „Love in idleness“, was einfache Feldstiefmütterchen meint. Der Saft des Stiefmütterchens auf entschlafene Wimpern geträufelt, lässt den oder die Beträufelte sich in jene verlieben, den sie oder er als Erstes erblickt, wenn sie oder er die Augen aufschlägt. So poetisch ging es damals noch zu, als nicht mit K.-o.-Tropfen auf der Tanzdiele operiert wurde…
Dafür wurden damals arglose Baldrian-, Gundermann- und Rainfarnpflanzen abgerissen, um sie als Schutzzauber einzusetzen. Schutzzauber! Das hören die Hexen gegen faulen Zauber gar nicht gern. Der notorische Pflanzenfeind Shakespeare empfiehlt sogar: „Eibenzweige abgerissen, bei des Mondes Finsternissen“, um Geister herbeizurufen, die besser ungerufen bleiben.
Mistelzweige kann man dagegen ohne ethische Vorbehalte abschneiden und im Haus aufhängen, weil die Mistelpflanze als Schmarotzerpflanze ja selbst ein kannibalistischer Pflanzenfeind ist. Sie ist aber auch in der germanischen Sagenwelt die einzige Pflanze, von der die Liebesgöttin Frigga nicht verlangte, einen Eid zu ablegen, ihren Sohn nicht zu töten.
Friggas Sohn Balder träumte nämlich von seinem eigenen Tod, weshalb die Liebesgöttin von den Pflanzen und Tieren verlangte, ihn nicht zu verletzen, was der böse Gott Loki prompt ausnutzte und Balder aus Neid auf dessen Reinheit mithilfe der unschuldigen Mistel umbringen ließ. Vielleicht nutzen deshalb russische Regimegegner den Mistelzauber gern, denn der schützt gegen das Gift des Regimes. Geküsst werden darf unterm Mistelzweig ja auch, ein rundum gelungenes Portfolio also.
Leider wird der nichtsahnende Hauslauch oder Donnerbart genau wie die arglose Arnika von Barbaren ausgerissen, weil die Pflanzen vor Blitzeinschlag schützen sollen. Und als es noch keine Metallsonden gab, dezimierten Wünschelrutengänger ganze Haselnusskolonien, um mit den Haselruten vergrabenes Gold und andere Schätze zu finden. Das macht glücklicherweise heute keiner mehr.
Umstrittenes Farnkraut
Längst vergessen ist auch, dass Farnkrautsamen unsichtbar macht und dass man mit dem Samen in der Tasche unfallfrei Auto fährt und nicht geblitzt werden kann! Die Farnsamenverwendung ist ethisch unbedenklich, nur die Beschaffung ist nicht ganz unumstritten: Mann und Frau müssen sich dazu in der Johannisnacht zwischen elf und zwölf an einem Kreuzweg einfinden und sich einem, der hier ungenannt werden soll, verschreiben. Im Gegenzug gibt’s dann ein Tütchen Farnsamen!
Die Alraune hat einen wirksamen Ausgrabeschutz vor den Menschen entwickelt, denn sie sollte nachts unter einem Galgen ausgegraben werden. Das ist nicht jedermanns Sache, und die Galgen stehen ja obendrein auf der Roten Liste der aussterbenden Dinge und sind zumindest in unseren Breitengraden glücklicherweise längst in den ewigen Jagdgründen. Auf einem ehemaligen Galgenberg könnten heutzutage womöglich Disteln wachsen, denn diese wachsen, wo ein verfluchter Toter liegt oder wo der Ort eines Verbrechens ist. Aber von Disteln lässt man ja ohnehin besser die Finger.
Das verflixte Neujahrsorakel hat dafür den Buchsbaum mehr Blätter gekostet, als der Buchsbaumzünzler jemals fressen konnte. Der Aberglaube sagt, dass ein Buchsbaumblatt, zu Neujahr ins Wasser gelegt, vorhersagt, ob man gesund bleibt (grünes Blatt) oder ob der Tod droht (schwarzes Blatt).
Die Hexen gegen Pflanzenfrevel sagen dagegen voraus, dass demjenigen ein früher Tod droht, der harmlose Buchsbaumblätter ausreißt! Gegen wütende Hexen hilft nur ausgestreuter Mohn. Die zwanghaften Hexen müssen diese Mohnkörner zählen, ehe sie dem Ausstreuer wehtun können. Doch bis dahin ist der pfiffige Mohnbrötchen-Abrubbler längst über alle sieben Berge!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland