Die Wahrheit: Ich, der Konsumidiot
Diese heißen Treter aus dem Discounter sind der allerletzte Scheiß. Doof nur, wenn schon andere auf den Trichter gekommen sind.
N eulich bin ich mir selbst auf die Schliche gekommen. Mir wurde schlagartig klar, dass ich ein totaler Konsumfreak, vielleicht sogar -idiot bin, als ich morgens mit Kaffee auf dem Sofa herumlag und dachte: „Wenn ich jetzt nicht sofort meine Lidl-Sneakers anziehe, werde ich verrückt!“ Die Schuhe wiederum hatte ich im vergangenen Herbst erstanden, weil auch ich mal ein ironisches Statement-Piece am Leib tragen wollte wie die coolen Leute in den großen Städten.
Diese Sneakers in Lidl-Farben, auf denen stolz das Lidl-Logo prangte, trug man im Bewusstsein der Absurdität, dass sich hier ein Discounter, ansonsten hinter schäbigen Eigenmarken versteckt, als „Kultmarke“ inszenierte. Man war also als kritischer Konsument wegen des Niedrigpreises fein raus, konnte das gesparte Geld in Boutiquen oder Sternegastronomie tragen, hatte zudem eine Art Investition getätigt, da von unvorstellbaren Summen gemunkelt wurde, zu denen bei Ebay inzwischen die Erstauflage von vor einem halben Jahr kursierte, war überdies auf der Bewusstseinsebene augenzwinkernd „Meta“ und praktisch unangreifbar, und abschließend sahen die Dinger in ihren billigen Primärfarben auch noch umwerfend aus, nämlich wie eine klare Kampfansage an den guten Geschmack, hehe!
Was mir aber „schräg“ und „irgendwie witzig“ vorkam, war in Wirklichkeit nur ein maßgefertigter Köder für die Zielgruppe – abgefeimter Werbetrick einer skrupellosen Bewusstseinsindustrie, die mich und meinesgleichen offenkundig gerade unter ihr Joch zwang.
Obwohl ich ja gar nichts von den Sneakers hatte! Ich hatte zwar bei Facebook mit den quietschbunten Schuhen angegeben, aber ehe ich sie ins Nachtleben ausführen konnte, machte mir der bei Facebook ungleich populärere Zeichner Elias Hauck einen Strich durch die Rechnung, indem er seine Lidl-Sneakers seinerseits keck postete und sogar ankündigte, sie bei einer bevorstehenden Ausstellungseröffnung zu tragen.
Lockdown bei Footlocker
Jetzt war ich allerdings Kurator dieser Ausstellung und von Amts wegen verpflichtet, Hauck gut aussehen zu lassen, musste also bei dem glamourösen Event auf die Schuhe verzichten, damit der feine Herr Künstler seinen Applaus einstreichen konnte; und danach war schon wieder Winter-Lockdown. Sodass sich in der Zwischenbilanz die ungefähr 18 Euro 62, die mich die Sneakers gekostet hatten, noch gar nicht richtig in Distinktionspunkten oder mir entgegenschlagender Bewunderung ausgezahlt hatten.
Und während ich all dies dachte, hatte ich die Lidl-Sneakers schon angezogen, weil mir dieselbe Bewusstseinsindustrie, die mich bereits am Wickel hatte, nun den Befehl erteilte, zum nächstgelegenen Laden zu laufen und Brötchen zu kaufen. Begründung: Ein guter Tag müsse mit Honig und Markenbutter auf frischen Brötchen beginnen. Geht es noch jemandem so? Fühlt sich noch jemand so verführbar, manipulierbar, oberflächlich und Ich-schwach wie ich?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf