Die Wahrheit: Atemlos durch die Diss
Nach Plagiatsvorwürfen gegen deutsche Politiker geraten auch immer mehr Unterhaltungskünstler in diffizile Gewässer.
Helge Braun notiert sich alles akribisch. Seit seiner glücklichen Kindheit. Klassenfahrt in den Harz, Fasching auf der Zugspitze, Ferienführerschein in Bad Vilbel, danach Physikum in Gießen, Promotion in Panama. Der Mediziner, Merkel-Intimus, Chef des Bundeskanzleramts, auch ChefBK genannt, und Bundesminister für besondere Aufgaben verfügt über derzeit 3.438 eng beschriebene Kladden seines Lebens vor und in der CDU. Auch für die Zeit nach der Bundestagswahl 2021 hat er schon Stauraum für Notizen unter der Parteizentrale in der Berliner Klingelhöferstraße klargemacht. Und jetzt das: „Helge Braun hat von sich selbst abgeschrieben“, schrieben in jüngster Zeit diverse deutsche Schreibstuben. Wie ist das zu verstehen?
Hat der wohlbeleibte und stets freundliche Tanzbär selbst recherchierte und von ihm eigenhändig notierte Details, unter anderem eine schulische Nachtwanderung auf den Brocken unter Zuhilfenahme von Warmbier und Kirschlikör, hat Helge Braun wirklich solch harte Facts in seine Dissertation, kurz Diss, einfließen lassen? Ist das wirklich wahr? Und wie lautet eigentlich der Titel seiner jetzt in Verruf gekommenen Promotion? Was steht da drin?
Helge Braun hat sich 2007 im Alter von 35 Jahren zum Doktor der Medizin machen lassen. In Panama gibt es dafür statt des klassischen Doktorhuts einen Panamahut – auch der legendäre Zeichner Janosch („Oh, wie schön ist Panama“) gab hier seine Diss an der Pforte und mit summa cum stift ab. Brauns „verdienstvolle Arbeit“, so die Panama University Press, „behandelt den Einfluss intraoperativer Tachykardien (Herzrasen während einer Operation) auf die postoperative Prognose“. Und das kurz und bündig und auf nur 59 dem Doktortitel hinterhergeschmissenen Seiten. Die aktuellen Hammervorwürfe „beziehen sich auf das Verhältnis der Promotion zu einer zuvor erschienenen Publikation mit Braun als Ko-Autor sowie auf mögliche Überschneidungen mit anderen der Braun’schen Schriften“, erläutert die karibische Universität auf Nachfrage der Wahrheit. Braun ist noch immer beim Universitätsklinikum Panama-Stadt als Anästhesist unter Palmen beschäftigt, aber aufgrund seiner politischen Tätigkeit beurlaubt.
Juvenile Inkontinenz infolge von Alkoholeinfluss
Via Panamakanal und einer engagierten Mittelsfrau des Uniklinikums ist die Wahrheit vorab in den Besitz von Textpassagen der Braun’schen Diss gekommen. Da heißt es etwa gleich auf Seite eins unter dem Stichwort „Zum Geleit“: „Ich danke für die gründliche Einarbeitung in die Problematik der intraoperativen Tachykardien von ganzem Herzen Thorsten, der mir immer wieder mal aus der Patsche hilft. 1990 etwa hat er mir mein kaltes Gesäß gerettet. Siehe hierzu und als wissenschaftlicher Beweis Kladde 1.459, Zitat: 'Thorsten ist echt dufte. Letzte Woche bin ich mit ihm und den anderen Jungs zum Faschingfeiern auf die bayerische Zugspitze (höchster Berg Deutschlands!) getrampt. Oben angekommen war es dunkel und ich habe aus Angst und wegen Underberg eingenässt (Fußnote: juvenile Inkontinenz infolge von Alkoholeinfluss). Als ich versucht habe, das Gipfelkreuz der Zugspitze zu besteigen, hat Thorsten ‚Stopp!‘ gerufen', Zitat Ende.“
Und im hinteren Mittelteil der Promotion des Durch-und-durch-Gießeners lesen wir auf Seite 33 zum Thema „Postoperative Prognose“: „1997 ist ein gutes Jahr gewesen! Jetzt kann ich endlich bald mit meinem Opel Corsa selbst nach Apulien fahren und Knoblauch in Olivenöl vom Bauernhof beziehen. Habe mir das Geld für meinen Ferienführerschein in Bad Vilbel vom Munde zusammengespart. 1.249 Mark! Und ich bin schon 25 Jahre alt! In diesem Alter ist der Einfluss intraoperativer Tachykardien auf die postoperative Prognose signifikant vernachlässigbar.“
Aber nicht nur Helge Braun ist, wie soeben schlüssig der Einblick in seine engagierte und von vielen lieben Erinnerungen geprägte Diss gezeigt hat, von gesellschaftlichem Unbill, ja ungebildetem und blankem Neid der Bundesdeutschen umzingelt. Mittlerweile geht es auch verdienten Unterhaltungskünstlerinnen und -künstlern an den blütenweißen Bildungskragen.
Ganz oben auf der Diffamierungsliste steht der mit Abstand erfolgreichste Künstler in den deutschen Charts, der Sänger und Gitarrist, Komponist und Musikproduzent, der Rumäniendeutsche Peter Maffay. In einschlägigen Foren wird der 72-jährige an der Universität von Transsilvanien promovierte Barde dolle gedisst wegen seiner Diss im Fach Musikchemie mit dem Titel „ Über sieben Brücken musst du gehen, sieben Aminosäuren zerlegen“. Darin heißt es, geleakt vom Bonner Beethovenhaus und auf Seite 77: „Wer zweimal mit derselben Aminosäure experimentiert, muss zur Strafe siebenmal ohne Nachtisch ins Bett.“ Und auf Seite 101: „Manchmal bin ich morgens müd’, und dann such ich Trost in einem Lied. Folglich: Siebenmal Asche auf mein Haupt, q. e. d.!“
Maffay will sich auch auf Nachfrage der Wahrheit nicht wirklich äußern, sondern singt nur als Statement („Könnt ihr so drucken“) in den Hörer: „Scheiße, Pisse, volle Macke, du deutsche Bildungskacke.“ Außerdem ist ihm wohl zu Ohren gekommen, dass Helene Fischer ebenfalls in akademischen Rechtfertigungsschwierigkeiten steckt. „Ruft die mal an!“, ruft er uns beim Auflegen zu.
Erst beim dritten Klingeln hebt die gefeierte russlanddeutsche Schlagersängerin, Tänzerin, Fernsehmoderatorin und Schauspielerin ab. Mit über 16 Millionen verkauften Tonträgern zählt die Chanteuse zu den kommerziell erfolgreichsten Deutschlands und zu den weltweit bestverdienenden Musikerinnen. Und jetzt das – vielleicht ist auch, wie möglicherweise beim Rumäniendeutschen Maffay, biodeutscher Dissertations-Dünkel der übelsten Sorte dabei: Fischer stammt aus Krasnojarsk.
Lupenreiner Wechsel vom Dur- in den Mollnotenschlüssel
Fernmündlich und außer Atem berichtet sie, dass sie vorige Woche von einem „Rechercheverbund“ angeklingelt worden sei. Wie sie denn heute zu ihrer Fachhochschuldissertation von 2003 stehe und ob deren Titel überhaupt ernstgemeint sei, hätten die Herren aus der Telefonkonferenz von ihr wissen wollen. „Natürlich“, so Fischer, sei „Atemlos durch die Kohlenmonoxid-Nacht“ ein wissenschaftlich lupenrein begründbarer Titel für ihre Diss, die gekonnt immer wieder vom Dur- in den Mollnotenschlüssel wechsle. Zum Beweis singt die 36-Jährige uns ein paar Takte ihrer Diss vor. Wir schmelzen dahin und legen dankend auf.
Weniger überzeugt sind wir, als wir schließlich nach einem Tipp aus der universitären Recyclingszene, Heino an die Strippe bekommen. Der Sonnenbrillenträger ist nur am Schimpfen und Schwarzsehen. Unter dem Pseudonym Heinz Georg Kramm hat der aus Düsseldorf-Oberbilk Stammende nicht lange nach der Nazizeit zum Thema „Deutsches Pfandliedgut“ promoviert und rezitiert. „Wissen Sie was? Diese ganze Abkanzelkultur derzeit, die kann mich mal kreuzweise!“, donnert uns Heino ungefragt entgegen. „Was kann ein Heinrich Heine dafür, dass ich ihn gerne und oft singe? Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, ich habe einen Anruf von Doktor Franziska Giffey auf der anderen Leitung!“
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