Die Wahrheit: Rein, raus und fertig ist die Larve
Es bleiben nur ganze 24 Stunden. Also: Carpe diem! Echte Erinnerungen einer Eintagsfliege von arg einfacher Herkunft und überaus viel Natur.
Ich wurde um null Uhr als neuntausendeinhundertundvierundzwanzigstes Kind einfacher Eintagsfliegen geboren. Meine Kindheit war kurz. Schon mit zwanzig Minuten kam ich in einen katholischen Larvengarten, weil meine Eltern beide arbeiteten. Sie fertigten einfache Mundwerkzeuge für den täglichen Gebrauch und waren dann auch gleich tot.
„Carpe diem“: So lautete stets mein Lebensmotto. Mein außerordentlicher Ehrgeiz zeigte sich schon früh. In der Fliegenschule war ich immer und überall der Beste. Im Schwirren, Häuten, Krankheiten-Übertragen und Auf-der-Scheiße-Sitzen. Mein letztes Larvenstadium endete mit dem erfolgreichen Abitur. Als Subimago studierte ich anschließend anderthalb Stunden lang Geschichte, Politik und Schwarmbildung und schloss summa summ laude ab.
Als junge Fliege war ich ein mehr als passabler Faustkämpfer, aber das Boxen ist ein schnelllebiges Geschäft, besonders im Fliegengewicht. Nach einer üblen Stauchung des Scheindarms mit Teilabriss eines Hinterleibsfadens hängte ich die Handschuhe für immer an den Nagel. Ich hatte eh nicht die Zeit – ein Leben hat nun mal nur vierundzwanzig Stunden. Und nach den vielen One-Second-Stands in den wilden Studienminuten sehnte ich mich nach einer treuen Fliegin als Gefährtin für den Rest des Lebens.
Das ging zum Glück schnell. Sich einen Abend lang gemütlich in einem Glas Rotwein kennenzulernen können sich Fruchtfliegen leisten, unsereiner hat die Muße nicht. Da heißt es Speeddating, Speeddating und noch mal Speeddating. Name, Adresse, Alter, bis der Tod uns scheidet, amen, rein, raus und fertig ist die Laube.
Lästern hinter Flügeln
Schon beim ersten Date war alles klar. Es gab keinerlei Dissens über Wünsche, Pläne oder allgemein die Zukunft. Meine Frau war übrigens dreieinhalb Stunden älter als ich. Das ist schon übel, wie bei einer solchen Konstellation hinter den eigenen Flügeln gelästert wird. Aber umgekehrt findet es jeder völlig normal, wenn ein vierzehn Stunden alter Fliegenknacker mit einer Fünfstündigen abzieht, die noch kaum Fühler hat. Das ist doch lächerlich. Die können mich mal alle.
Mich haben gerade auch ihr Humor, ihre tiefe Gelassenheit und ihre Lebenserfahrung angezogen, die sie den flatterhaften Eintagsfliegenmädchen voraushatte – die wollen ja heute mal dies und morgen dann schon gar nichts mehr. Dass wir eventuell keine Kinder mehr haben könnten, nahmen wir in Kauf. Es stellt sich ja ohnehin die Frage, ob man das überhaupt verantworten will. Ich mein, du setzt da Kinder in eine Welt, von der du gar nicht weißt, wie sie anderntags aussehen wird. Alleine schon der Klimawandel. Manchmal wird es in den Morgenstunden bis zu fünf Grad kälter. Und du bist dann vielleicht auf der Terrasse gefangen, weil die Außentür zur Küche plötzlich zu ist. Das hoffnungsvolle Leben so mancher jungen Eintagsfliege wurde auf diese Weise viel zu früh beendet.
Es klappte aber dann doch noch mit dem Nachwuchs, und ich unterstützte meine Frau bei ihrer Mehrlingsschwangerschaft, indem ich während der Eiablage pausenlos um sie herumschwirrte. Auch für mehrere zehntausend Kinder Namen auszusuchen, ist ein Aufwand, den Kinderlose gar nicht nachvollziehen können. Trotzdem kommen die einem immer gern mit schlauen Ratschlägen: „Namensgenerator“, „einfach nummerieren“ oder „lohnt sich für die Zeit doch eh nicht“, um hier nur drei zu nennen. Wir haben den Quatsch meistens weggelächelt, was soll man sich in der kurzen Zeit auch noch mit Idioten herumstreiten?
Später war ich lange in der Politik. Von sage und schreibe elf bis vierzehn Uhr war ich unser Vertreter im Insektenparlament, zuständig für Gewässergüte und Parthenogenese. Aber es war frustrierend. Versuchte ich, Gesetzesvorlagen zügig durchzupeitschen, bremsten die anderen Insekten jede Entscheidung mit ihrer Blockadehaltung. Die hatten ja alle Zeit der Welt. Außerdem wurde ich in der Kantine gemobbt. Auf Schritt und Tritt scholl mir ein „Mahlzeit“ entgegen, als würde ich diese perfide Anspielung auf meine angebrochene Midlifecrisis nicht erkennen. Zermürbt gab ich schließlich auf. Von einer politischen Karriere kann ich nur abraten: Jede Amtsperiode lässt einen um Minuten altern.
Professur für Gesterngeschichte
Ich nahm daraufhin meinen eigentlichen Beruf als Historiker wieder auf. An der Albert-Eintags-Universität lehrte ich als Professor mit den Schwerpunkten Vorgestrozän und Gestrolithikum. Die Ur- und Frühgeschichte hatte mich schon immer fasziniert. Die früheren Eintagsfliegen wurden oft nur vierzig Minuten alt – das muss man sich mal vorstellen. Erst die bessere Ernährung und der medizinische Fortschritt sorgten dafür, dass wir heute dermaßen alt werden können.
Doch natürlich interessiert mich auch die jüngere Geschichte, wie der verheerende Fledermausangriff um 21.11 Uhr, der damals Tausende Eintagsfliegen das Leben gekostet hatte – die Katastrophe ging als „Nineeleven“ in das kollektive Gedächtnis unserer Ordnung ein.
Gegen 23 Uhr – ich war inzwischen längst verwitwet – wurde ich schließlich emeritiert. Ein kurzes, erfülltes Leben neigt sich nun seinem Ende zu. Die Kinder drängen mich jetzt vermehrt, meine Angelegenheiten zu regeln: Wer kriegt was, die Facettensammlung, die Gonopoden, wie und wo möchte ich beerdigt werden, eine Pfützenbestattung oder vielleicht doch lieber recht feierlich an einer Straßenlaterne verbrannt?
Dabei ist es doch erst fünf vor zwölf, und ich fühle mich noch ausgesprochen rüstig. Soll ich da wirklich jetzt schon untätig auf den Tod warten, wie eine Kakerlake an einer stillgelegten Haltestelle auf den Bus? Aber immerhin kann ich hier so lange mit Ihnen in aller Ruhe über mein bewegtes Leben sprechen, urrks …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen