Die Wahrheit: Stoppelmattig in der Postapokalypse
Stimmt es in pandemischen Zeiten eigentlich noch, dass nur ein gelernter Figaro ein guter Figaro ist? Ein Frontbericht von der Frise.
Sechs Uhr früh, Gewerbegebiet. Es ist ein bitterkalter Februarmorgen hier in Frankfurt-Fechenheim. Eine Handvoll Menschen in bunter Kleidung steht am Straßenrand, geht betont unauffällig auf und ab. Gelegentlich heben sie lässig die Hand, machen eine Geste in Fahrtrichtung der Autos: Zeige- und Mittelfinger, die schnell gegeneinanderklappen. Immer wieder halten einzelne Limousinen. Dann fahren die in die Illegalität gedrängten Friseurinnen und Friseure einem unbekannten Salon entgegen.
So oder ähnlich stellen sich derzeit Angestellte klassisch liberaler Nachrichtenmagazine die Situation vor. Die Wahrheit ist jedoch viel komplexer, sagt Cassiopeia McIntosh von der Ruhr-Uni Potsdam: „Ein uralter Grundsatz des Handwerks lautet: Friseure schneiden allen die Haare, die sich nicht selbst die Haare schneiden. Das ist aber bereits in sich paradox, denn wenn sich alle selbst die Haare schneiden, sind alle immer auch schon irgendwo Friseure“, erklärt die glattrasierte Soziologin und fährt fort: „Ein Faktum, das selbst wieder eklatant dem zweitem Hauptsatz der Coiffodynamik widerspricht – was Friseure können, können nur Friseure! Wir sollten die Pandemiezeit nutzen, um diese und ähnliche liebgewonnenen Halbwahrheiten auf den Prüfstand zu stellen.“
Einer, der wirklich Dinge auf den Prüfstand stellt, ist Jupp Joop, unehrlicher Stiefsohn des bekannten Modezaren gleichen (nicht selben) Namens. Der 39-jährige KfZ-Mathematiker macht derzeit mit seiner Hebebühne mehrere Hundert Leerfahrten am Tag – „einfach, um irgendwas zu spüren“, wie er sagt. Dass sein Geschäft vom Lockdown gar nicht betroffen ist, spielt für unseren Artikel keine Rolle, denn es folgt ein weiteres Beispiel: Carmelito Britz, 29, Sohn eines uralten Geschlechts von Ponydompteuren, dessen Traum vom Start-up („Pony-Express“) mit Beginn „der ganzen Scheiße jäh ausgeträumt war“.
Oder nehmen wir Stefanie Rheinhuld, 42, Controllerin aus Nürnberg. Sie ist die Exfrau von Vladimir Wupp, 51, der wiederum lange Zeit mit ihr verheiratet war. Er hat eine darniederliegende ibero-israelische Fusion-Brasserie am Stadtrand von Dessau, sie betreibt einen Laden für Amalgamspielzeug im Sauerland. Beider einziger Kunde: Karl Lauterbach, 57, der auf Twitter großspurig versprochen hatte, den zwei Unternehmen mit gelegentlichen Stützkäufen unter die Arme zu greifen. Was allen diesen Personen gemein ist? Sie alle schneiden sich seit Wochen selbst die Haare, servieren sich gegenseitig Kaffee und blasen Musik auf dem Kamm. Mindestens Lauterbach merkt man es auch an.
Haarige Verdachtsmomente mit hässlichen Konsequenzen
Was passiert, wenn ganze Berufszweige in die Kriminalität gedrängt werden? Schon jetzt ziehen Personen mit verdächtig tollen Haaren auf der Straße neidvolle und argwöhnische Blicke auf sich: „Die hat doch machen lassen“, heißt es dann oft gehässig; „Bei dem habe ich es doch gestern Abend schnippen hören in der Wohnung.“ Ein hässlicher Verdacht, der schnell zu ernsten Konsequenzen führen kann. „Wer nicht mit systemkonformem Wuschel oder stümperhaft maschinengeschnittener Stoppelmatte durch die Postapokalypse stolpert, riskiert eine Razzia durch die Haarpolizei“, schrieb der freche Welt-Kolumnist Adolf Hitler in einem viel beachteten Leitartikel.
Ähnlich sieht es der gelernte Universalgelehrte Daniel Kehlmann: „Sehen wir uns die Zeit des Dreißigjährigen Krieges an, da war alles viel schlimmer, trotzdem konnten die Leute zum Friseur. Und heute soll laut Merkel dieses uralte Kriegsrecht nicht mehr gelten? Sorry Leute, aber das erinnert mich verheerend an die Grausamkeit der DDR-Schergen.“
Auch im Kanzleramt ist man sich einig: Eine untercoffeinierte Bevölkerung ohne Theater und mit blöden Haaren ist sozialer Sprengstoff pur. „Wir machen allen Bürgerinnen und Bürgern ein Frisierangebot bis zum Herbst“, verkündete deshalb Angela Merkel jüngst auf dem Krisengipfel Haar. Ob das dafür notwendige Personal zur Verfügung steht, ist aber fraglich: Bundesweit haben die Jobcenter Zehntausende Friseure bereits umgeschult, etwa zu Bühnentechnikern, Kellnerinnen oder Chorsängerinnen. „Haare mutieren irrsinnig schnell“, warnt derweil die unabhängige Stiftung Udo Walz. „Sie glauben, Sie können sie einfach wachsen lassen, aber plötzlich ist da der Lockenschlag, der einfach nicht mehr rausgeht. Und schon können Sie sich nicht mehr unter Leute wagen!“
Ob diese etwas pessimistische Sicht sich bewahrheitet, ob diese Art aufgeregt-atemloser Auflistung zufälliger Fakten wirklich Journalismus ist, wird die Zeit zeigen. Fest steht schon jetzt: Der Markt passt sich an. Amazon hat eine neue Technologie entwickelt, bei der echte oder täuschend echte Haare einzeln aneinandergeklebt und als sogenannte Perücke ganz einfach mit der Post verschickt werden können. Bricht Amazon das Monopol der Friseure? Auch der Rücktritt des traditionell frisurenfeindlichen Jeff Bezos könnte ein subtiler Hinweis darauf sein.
Fehlendes Friseurgeschwätz verbessert spürbar CO2-Bilanz
Und die Ökologie? Seit in Deutschland nicht mehr frisiert wird, hat das auch spürbar positive Auswirkungen auf die CO2-Bilanz. Eine Stunde Friseurgeschwätz verbraucht etwa 100 Hektoliter Sauerstoff, mit Föhnen deutlich mehr. Auch die kostspielige Entsorgung der biologisch nicht abbaubaren Althaare, die nach dem Zusammenkehren klassischerweise nach Farben geordnet verbrannt werden müssen, lässt die Natur aufatmen. Filzläuse und Haarbalgmilben kehren zurück, auch natürlich vorkommende Brillantine sowie Spliss, ein traditioneller Bewohner Mitteleuropas, können sich wieder vermehren.
Überhaupt braucht es mehr Zuversicht in diesen Zeiten. Während die Theater geschlossen bleiben, produzieren die Menschen zu Hause ihre eigene Unterhaltung. Von der Bundesregierung subventioniert ist etwa die Call-in-Sendung „Wer war ich?“, die interessante Rateshow für Exberufe. Wessen ehemalige Profession richtig geraten wird, erhält ein zinsfreies Rettungsdarlehen, das zwei Monate später überraschend zurückgezahlt werden muss. Wo Cafés geschlossen bleiben, spielen viele Kleinfamilien zu Hause einen typischen Besuch nach: Alle schreien stundenlang herum, dann muss wegen Schichtwechsel abkassiert werden.
Sind das nicht nur alles bloß Luxussorgen? Sind Haarfrisuren wirklich noch ein sinnvolles Mittel der Selbstgestaltung in Zeiten, da wir uns per Videofilter blitzschnell in eine Luftballongestalt oder einen feuerspuckenden Shrek verwandeln können? Die Regierenden sind jedenfalls gehalten, mit gutem Beispiel voranzugehen. Erst eine Angela Merkel mit komplett verschnittenem Pony holt die Bürgerinnen und Bürger wieder da ab, wo sie wachsen lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja