Die Wahrheit: Verwöhnte Arschgeigen
Manchen ging es schlecht in diesem Pandemiejahr, aber dann gibt es immer noch die ewig gleichen Egoshooter auf Kosten anderer.
D a sitzt man also „zwischen den Jahren“ in seiner Eremitage und blickt zurück auf knapp zehn Monate voller Indoor-Kontaktvermeidung, Outdoor-Plauderspaziergänge, Zoom-Konferenzen und abgesagter Live-Auftritte. Und auf unendlich peinliches Gejammer eines Teils der gebildeteren Schichten.
Vielen erging es im Pandemiejahr schlecht. Allen voran den an Covid-19 Erkrankten und Verstorbenen. Aber auch Menschen, die vorher schon wenig hatten und plötzlich gar nichts mehr verdienten. Oder Frauen und Kindern, die mit gewalttätigen Männern in Wohnungen eingesperrt waren. Oder den psychisch Kranken. Aber sonst?
Angesichts der Bildungsbürger und Eso-Hippies, die gemeinsam mit Rechtsradikalen gegen die vermeintliche Einschränkung ihrer Freiheit protestierten, gern auch mal mit gelbem Stern an der Brust, dachte ich oft an die weisen Worte meines Onkels Kalle: „Euch verwöhnten Arschgeigen geht es einfach zu gut!“
Und ich füge hinzu: Und zwar schon immer. Und stets auf Kosten anderer. Schon als Kind musstet ihr zu Weihnachten nur eine Liste hinkrakeln und – zack! – lagen die Geschenke unterm Tannenbaum. Ihr konntet immer alles machen, was ihr machen wolltet, reisen, wohin ihr reisen wolltet, studieren, was ihr studieren wolltet, und wohnen, wo ihr wohnen wolltet. Jetzt ist mal kurz Pause mit eurer Personality-Show, und wie es sich für dreijährige Egomonster gehört, werft ihr euch auf den Boden und schreit und strampelt wild mit Armen und Beinen herum. Und kaum einer nimmt euch ernst.
Nur dieser fiese Nazijunge aus dem Naziviertel, dem ihr sonst wohlweislich nicht begegnen wollt, der sagt: „Ihr habt recht! Die Angela, der Karl, der Jens und der Bill, die sind schuld. Das sind Diktatoren. Denen hauen wir jetzt aufs Maul. Und hinter allem steckt der George, und der ist Jude. Den knüpfen wir an die Laterne!“ Letzteres überhört ihr selbstverständlich. Das wäre ja auch zu eklig. Ihr wollt nur Liebe und Freiheit. Und das keift ihr den Journalisten auch liebevoll ins Gesicht.
Kleiner Tipp: Falls ihr jemals wieder ernst genommen werden wollt, hier eine unvollständige Liste von seit Jahren real nicht existierenden oder eingeschränkten Freiheiten, für deren Durchsetzung ihr euch im Jahr 2021 zur Abwechslung mal engagieren könntet: Die Freiheit, als Kind von armen Eltern problemlos eine höhere Schulbildung zu erlangen. Die Freiheit, sich als orientalisch aussehender Mensch überall in Deutschland angstfrei bewegen zu können, auch in sächsischen Nahverkehrszügen. Die Freiheit, selbstbestimmt sterben zu dürfen. Die Freiheit, als Frau nicht sexuell belästigt, und die Freiheit, als Schwarzer nicht ständig von der Polizei kontrolliert zu werden.
Am drängendsten aber: Die Freiheit, als Kind in einem Flüchtlingslager nicht zwischen Müllbergen, ohne Toilette und fließend Wasser leben zu müssen und missbraucht zu werden. Das wäre doch ein schöner Anfang für eure Rehabilitation.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands