Die Wahrheit: Die drei Fragen am Tor des Schlosses
30. Berliner Märchentage. Zum Jubiläum das letzte Märchen der Welt. Mit einer Prinzessin, einer Hexe und einem verhinderten Zauberer.
Es war einmal ein Schloss, in dem ein alter Zauberer wohnte. Dieses von Efeu und wildem Wein umflorte geheimnisvolle Bauwerk thronte auf einem kleinen Hügel direkt bei der Dorfkirche von Mecklenbeck. Am Boden des Kastells tollte eine schwarze Katze mit alten Kartoffeln herum, das Kerzenlicht flackerte gespenstisch und warf auf die Wände der verwitterten Zauberburg schaurige Schatten. Im abseits gelegenen Gemäuer des Nordflügels zerriss ein erbarmungswürdiges Frauenschluchzen die Szenerie …
„O verdammt!“, schoss es Zauberer Johann Nepumuk durch den Kopf. Er hatte ja die eingemauerte Prinzessin total vergessen! Und was noch schlimmer war: Er hatte auch total vergessen, warum die Prinzessin eingemauert im Turm saß!
Johann Nepumuk war halt ein verwirrter Schussel. Erst neulich war der alte Küster der Dorfkirche zu ihm gekommen, um bei ihm ein Zaubermittel gegen Haarschuppen in Auftrag zu geben. Gleichzeitig hatte aber seine Haushälterin, die dicke Mimi, um ein drolliges Haustier gebeten. Als sich dann auch noch der Koch darüber beklagte, er habe sich beim Abschmecken der Ameisensuppe die Zunge verbrannt, ging es in Johann Nepumuks Kopf drunter und drüber.
Er hatte sich dann in seine Zauberkammer zurückgezogen, mehrere Tränke und ein paar Spinnenbeine zunächst in sich selbst hinein und weitere Zutaten dann in den großen, dampfenden Kessel geworfen und dazu alles gemurmelt, was ihm noch einfiel. Dann explodierte der Kessel, und was – nachdem der Rauch sich verzogen hatte – auf dem Boden hockte, war ein schuppiges Fabelwesen mit niedlichem Gesicht und einer meterlangen Zunge, das Hunger auf Ameisen hatte und sich fortan im Zauberschloss gemütlich einnistete. Was für ein Fehlschlag!
Stolzer Knappe eines rostigen Ritters
Johann Nepumuks Gedanken schweiften zurück: Er war nicht immer ein Zauberer gewesen. Einst hatte er jugendfrisch und froh als stolzer Knappe den rostigen Ritter Marzipan von Quietsch zu Knarz begleitet und ihm bei manch einer Schlacht die Lanze und das Pferd getragen. Doch einmal ging er tief in den Wald hinein, da begegnete ihm ein altes hutzelig Weiblein in verschossenem und geflicktem Mäntelchen, das gebückt und bucklig Reisig sammelte. Und das Weiblein sprach zu ihm: „Willst du mir helfen, schöner Jüngling, mir den Reisig heimzutragen, so soll es dein Schaden nicht sein.“
Und wie im Traume ergriff der Knappe das Reisigbündel und folgte dem gebeugten Mütterchen lange durch den tiefen Tann, durch immer dichteres Gesträuch, und bald dachte er, ihm würden die Kräfte schwinden. Doch mit jedem Schritt, den er schwächer wurde, schien das hutzelig Weiblein schneller und stärker zu werden, und stets rief es Johann Nepumuk ärgerlich zu: „Flink, flink! Flugs, flugs! Die Zeit verrinnt!“
Und als sich Johann Nepumuk schon erschöpft zu Boden werfen wollte, da teilte sich das Buschwerk und gab den Blick auf eine klitzekleine, windschiefe Hütte frei, die jeden Moment umzufallen drohte. Und das Weiblein sprach: „Siebzig Jahre wirst du mir nun in meiner Hütte dienen, und es soll dein Schaden nicht sein.“ Und damit stieß sie ihn durch das klapprige Türchen – und wie staunte Johann Nepumuk da: Die winzige Hütte, die von außen so armselig und schäbig ausgesehen hatte, war von innen tatsächlich genauso armselig und schäbig.
Und nun musste Johann Nepumuk fegen und waschen, kochen und backen, klopfen und hacken, sammeln und jagen, und das tagein, tagaus von früh bis spät. Und wann immer er versuchte aufzubegehren, blinzelte ihn das bucklig Weiblein listig und böse an und knötterte immer wieder: „Es soll dein Schaden nicht sein.“
Als nun die siebzig Jahre ins Land gegangen waren, da rief das Weiblein: „Und jetzt hinfort mit dir, du alter Zausel.“ Doch als Johann Nepumuk nach seinem wohlfeilen Lohn verlangte, da fing das Weiblein zu toben an und spuckte, fauchte und kreischte: „Siebzig Jahre hast du mir die Haare vom Kopfe gefressen, und jetzt willst du auch noch Lohn? Sei glücklich, wenn ich dich nicht fresse!“
Junger Edelmann mit falschem Namen
Da ging Johann Nepumuk fort und wusste nicht, was werden sollte. Er wanderte wohl Tag um Tag und beklagte laut sein Schicksal. Dies hörte ein junger Edelmann, der Prinz Theodor von Schön, welcher sich aber mit seinem Tarnnamen „Der schöne adlige Theodor“ vorstellte, weil er in diesem Märchen unter gar keinen Umständen mit seinem echten Namen erwähnt werden wollte.
Und er sprach zu Johann Nepumuk: „Höre Väterchen. Nicht weit von hier steht ein altes Zauberschloss, das du dir erobern kannst. Aber wisse: Am Tore werden dir drei Fragen gestellt. Wenn du davon auch nur eine richtig beantwortest, bist du des Todes. Gelingt es dir aber, alle Fragen falsch zu beantworten, so wirst du dadurch die eingemauerte Prinzessin erlösen und ein mächtiger Zauberer sein.“
Frohen Herzens machte sich Nepumuk auf den Weg zum Zauberschloss und klopfte an. Eine Stimme erscholl: „Johann Nepumuk, hier kommt deine erste Frage: Nenne mir drei Tiere, deren Namen mit P anfangen.“
Johann Nepumuk kratzte sich den Kopf: „Sind es Pferd, Pfifferling und Pussard?“ Die Stimme lachte freundlich. „Das ist falsch. Hier kommt deine zweite Frage: Wie nennt man eine häufig anzutreffende Kopfbedeckung? Sie fängt mit H an und endet mit T. Drei Buchstaben.“
Johann Nepumuk walkte nachdenklich sein Kinn. „Ist es die Mütze?“ – „Wieder falsch“, lachte die Stimme. „Und nun sieh dich vor, hier kommt deine letzte Frage: Was ist die Quadratwurzel aus 34.974?“
„187,013368506!“, antwortete Johann Nepumuk wie aus der Armbrust geschossen. Und noch ehe er sich erschrocken die Hände vor den Mund schlagen konnte, fuhr ein gewaltiger Blitz vom Himmel hinab und direkt in Johann Nepumuk hinein, der sogleich mausetot zu Boden fiel. Und wenn er nicht gest… äh, ach egal …
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