Die Wahrheit: Im Versuchslabor Ostzone
Zurück in die Zukunft IV: eine Zeitreise in das gute, alte Jahr 2019 mit seinen arroganten Angstwestlern und nölenden Zwangsostlern.
Wir schreiben das Jahr 1985. Der in Wolfsburg für die Volkswagen AG arbeitende Ingenieur Dr. Emmett „Doc“ Brown erhält einen Routineauftrag. Die deutsche Regierung – also die richtige deutsche Regierung aus dem eigentlichen Deutschland; natürlich nicht die aus der technologischen Diaspora im Osten in Stasi-Dauerüberwachung – hatte 1984 die Einführung eines Katalysators für alle Autos mit Benzinmotoren beschlossen, was immerhin 5.000 D-Mark pro Karre gekostet hätte. Ein Sümmchen, mit dem man aber auch viel Nützliches machen könnte: die Hochzeit von Gerhard Schröder mit seiner Hiltrud finanzieren, ein paar Drückerkolonnen für den jungen Carsten Maschmeyer organisieren, Werbung im gerade frisch gestarteten Privatfernsehen schalten. Alles besser, als das schöne Geld für das Einhalten alberner Luftreinhaltungsgrenzwerte auszugeben, von denen der VW-Betriebslungenarzt glaubwürdig versicherte, dass sie ohnehin wirkungslos seien.
Doc Brown machte sich also ans Werk und nahm an einem Passat einige kleinere Manipulationen vor, aber irgendwie lief die Sache aus dem Ruder, und schließlich stellte der begnadete Tüftler erstaunt fest, dass er eine Zeitmaschine gebaut hatte, die ihn schnurstracks in das Jahr 2019 katapultierte.
Was er dort sah, verschlug ihm den Atem: Der Osten bildete inzwischen eine staatliche Einheit mit dem richtigen Deutschland, die Stasi-Überwachung gab es nicht mehr, jeder durfte reisen und reden, wie er wollte. Aber es fühlte sich für die Bewohner offenbar falsch an. Übellaunig schlurften sie durch strahlend restaurierte Innenstädte und in einem Geheimlabor geklonte Shoppingmalls, und statt sich oder Besucher freundlich zu grüßen, hoben sie bei Begegnungen nur kurz den Kopf und quakten „Lügenpresse!“ oder „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ oder „Danke, Merkel!“ in ihnen vorgehaltene Mikrofone.
Da die gesamte Zone offenbar zu einer Art Verhaltensforschungslabor geworden war, durch das als Reporter verkleidete Versuchsleiter huschten, um die Lebensäußerungen der merkwürdigen Geschöpfe dort aufzuzeichnen und zu analysieren, war zum Glück stets ein Mikrofon in Reichweite. Trotzdem, so schimpften sie weiter, würde ihnen niemals richtig zugehört, und überhaupt hätten die arroganten Westler sie nur belogen und betrogen, weshalb immerhin ein Viertel von ihnen bei den nunmehr freien Wahlen arrogante Westler wählten, die sie nur belogen und betrogen. Es war sehr verwirrend.
Ausgeprägte Neurosen
Aber auch im Westen herrschte Missmut. Vor allem über die stets nölenden Zwangsangeheirateten aus dem Osten natürlich, aber auch sonst litten die Menschen unter ausgeprägten Neurosen: etwa der Angst vor einem 16-jährigen Pippi-Langstrumpf-Verschnitt aus Schweden, der reihenweise alte, im fortgeschrittenen Verwesungsprozess befindliche Männer zu letzten Vitalfunktionen in Form von geifernden Grunzlauten und mit zitternden Gichtfingern getippten Botschaften veranlasste, in einer seltsamen Sprache, die sie anscheinend für Deutsch hielten.
Und das nur, weil die junge Frau ein paar Selbstverständlichkeiten aussprach, die Doc Brown schon aus dem Jahr 1984 gut kannte. Offenbar war man im Abwenden der bereits damals von den meisten seriösen Wissenschaftlern prognostizierten Klimakatastrophe noch keinen Deut weitergekommen, was aber trotz der unverkennbaren Bedrohungslage niemand außer ein paar Schülern ernsthaft zu beunruhigen schien.
Stattdessen pflegte das ganze Land eine kollektive Hysterie, weil irgendwo im Ruhrgebiet eine Kobra entkommen war. Um solcher Gefahren, durch die zwar bisher noch niemals irgendjemand zu Schaden gekommen war, Herr zu werden, wurde sofort ein Gesetz zum Verbot der Haltung dieser Tiere verabschiedet, während sich die Deutschen ansonsten von Hunden, Pferden und vor allem Autos jederzeit bereitwillig umbringen ließen, weil das nun einmal Teil ihrer abendländischen Kultur war.
Kurzum: Das Land war total im Arsch. Irgendetwas musste furchtbar schiefgelaufen sein.
Doc Brown fand heraus, dass es offenbar etwas mit einem gewissen Marty McFly zu tun hatte. Es war dem Bengel gelungen, sich in Doc Browns Zeitmaschine zu schmuggeln, um sich damit aus der Zukunft einige Anregungen zu holen, mit denen er dann 1989 Schabernack trieb. Dem Amerikaner Matt Groening etwa hatte er vom Humor der Zukunft berichtet, woraufhin dieser im selben Jahr noch eine visionäre Zeichentrickserie namens „Die Simpsons“ entwickelt hatte. Auch dem Engländer Tim Berners-Lee vom Forschungszentrum Cern hatte McFly in einer langen Kneipennacht in Genf von seinen Beobachtungen aus dem 21. Jahrhundert berichtet, was diesen am 12. März 1989 zur Erfindung des Internets inspirierte.
Aufwendige Operationen
Das allerdings ließ Raum und Zeit erzittern. Denn die Menschen in der DDR gaben nun plötzlich alle Angaben über sich, die bis dahin von der Stasi in wahnsinnig mühsamen und absurd aufwendigen Operationen zusammenspioniert worden waren, völlig freiwillig in dieses neue Internet ein. Eine Zeit-Implosion folgte, dann das Übliche: Ein verwirrter alter Mann stammelte etwas von „das tritt nach meiner Kenntnis … ist das … sofort … unverzüglich“, ein Beben im Hyperraum, Geschrei in der fünften Dimension, und zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls sollte in Berlin ein Konzert mit Dieter Bohlen, DJ Ötzi, Roberto Blanco, dem „König von Mallorca“ Jürgen Drews sowie Klaus & Klaus stattfinden.
Da war Doc Brown sofort klar: Träte dieses Katastrophenereignis tatsächlich ein, würde ein Schwarzes Loch das ganze Universum schlucken. Bedenkliche Risse im Raum-Zeit-Kontinuum wurden bereits sichtbar: So war das Konzert gar nicht auf den 30. Jahrestag des Mauerfalls terminiert, sondern auf den 29. der Wiedervereinigung.
Mit größter Mühe gelang es Doc Brown, alles wieder zu reparieren. Er stellte die historisch richtige Ausgangslage im Jahr 1989 mit zwei getrennten Deutschlands ohne fiesen Nationalstolz, dafür mit halbwegs zufriedenen Menschen und vor allem ohne Internet wieder her. Die von McFly ausgelösten Fehlentwicklungen spaltete er in einen Film ab, der wegen seines aberwitzigen Plots extrem erfolgreich wurde, ein echter Weltuntergangs-Schocker, in dem die Menschen, statt dem drohenden Armageddon etwas entgegenzusetzen, lieber darauf bestanden, möglichst viel CO2 in die Luft zu blasen, damit sie sich auch weiterhin gegenseitig mit ihren Autos totfahren konnten.
„Ganz lustig, aber ziemlich unglaubwürdig“, urteilte die internationale Presse in seltener Eintracht über den Streifen. Ein Welterfolg wurde er trotzdem. Die Leute lieben einfach diese unvergleichliche Mischung aus Horror und absurder Comedy. Noch heute. Nach 30 Jahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern