Die Wahrheit: Paradies auf Pferden
In Brüssel hat der europaweit einzige Polit-Gnadenhof für Tiere und ihre abgehalfterten Halter seinen recht ausgedehnten Sitz.
Manche sind schon alt hier, sehr, sehr alt. Zum Beispiel jene sympathische Stockente, die uns an diesem schwülen Julitag an der Pforte des „Châteaucastleschloss“ entgegenwatschelt. Das „Châteaucastleschloss“, kurz CCS, ist weniger als einen Katzensprung entfernt vom nigelnagelneuen Nato-Hauptquartier, das nördlich des tierisch langweiligen Brüsseler Boulevard Léopold III liegt.
Faktisch befindet sich das CCS also fast in der Kommandozentrale. Nur der Querriegel der verqualmten Cafeteria der Nuklearen Planungsgruppe, kurz „Camel“, verhindert die Verschmelzung dieses singulären europäischen Polit-Gnadenhofes mit den Truppen von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Eine lange Leine ist an der sympathischen Anas platyrhynchos befestigt, deren Bürzel arg grau wirkt und auf den Boden hängt. „Kein Wunder“, erklärt uns am Ende der fünf Meter langen Leine ein angejahrter Herr mit breitem Brillengestell und einem Packen noch nicht unterschriebener Autogrammkarten am Revers. „Meine Stockente Inge zählt 46 Jahre. Ich bin stolz auf sie.“
Martin Schulz ist es, der nach jovialer Begrüßung auf Holländisch, Französisch, Englisch, Italienisch und ein bisschen Rheinisch routiniert die komplizierten Einlassmodalitäten des CCS für uns erledigt. Als ehemaliger EU-Parlamentspräsident ist er ein „ausgefuchster Formularprofi“, wie er augenzwinkernd versichert. Seit seinem Ausscheiden aus dem dortigen Parlament und der verbockten Kanzlerkandidatur lebt der 63-jährige Politrentner auf eigenen Wunsch mit seiner Stockente Inge und einem stummen Stallburschen aus Würselen im CCS.
Keinerlei Zukunftssorgen
Hin und wieder fliege er mit Easyjet und Inge zu Bundestagssitzungen. SPD-Fraktionssitzungen spare er sich meist. „Tiere sind dort im Gegensatz zum Berliner Reichstag nicht zugelassen. Aber ohne meine Stockente kriegt man mich nicht mehr.“ So einfach ist das – Martin Schulz jedenfalls hat es auf dem Brüsseler Gnadenhof gut angetroffen. Wenigstens ein Politiker, um den man sich keinerlei Zukunftssorgen machen muss! Schulz wünscht uns noch leidlich kraftvoll „viel Vergnügen“ auf dem weitläufigen, heimelig grün gestrichenen Gelände des CCS. Dann sucht er mit seiner Stockente Inge das ganz Weite.
Wie aber sieht es rund um das „Châteaucastleschloss“ mit der neuen Brüsseler Währung UvdL aus, die noch starken Wechselkursschwankungen unterworfen ist? Deswegen waren wir doch eigentlich hierher in die flämisch-wallonische Frittenhauptstadt gekommen – wegen UvdL, wegen Ursula von der Leyen! „Gestatten Sie, dass ich mich Ihnen anschließe?“, fragt plötzlich wie aus dem Nichts ein früchtebrotartig verhutzeltes Gesicht, das ein listiges Lächeln aufgesetzt hat.
Auf der rechten Schulter von Jean-Claude Juncker sitzt ein schillernder Papagei, der ständig „Uschi mach kein Quatsch!“ krächzt. Sehr witzig. Die Gelbnackenamazone hört auf den Namen „Jacques D.“ und ist mit 93 Jahren genauso alt wie der auch auf dem Gnadenhof residierende einstige achte Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors.
„Jacques hat keine Zeit, sich um seinen Zögling zu kümmern, er muss ständig damals liegengebliebene EU-Erlasse mit blutroter Tinte unterzeichnen.“ Deshalb habe er, Jean-Claude, sich des vereinsamten Tieres angenommen. „Zusammen ist man doch immer stärker, n’est-ce pas?“, grinst der 64-jährige Luxemburger ohne Sinn und Zweck, aber mit ungehörig viel Pathos. Wir schütteln den nervenden Lëtzebuerger gekonnt wie eine lästige Fliege ab, noch bevor er uns ausführlich „mon Reich“ zeigen kann, eine holzgetäfelte Dampfplauderersauna „mit Durchreiche für lecker französisch Happa Happa auch nach Dienstschluss Ende Juli“.
So leicht wie ein Schäublechen
Alles schön und gut, aber wo bloß ist UvdL, die Ernst Albrecht und seine Frau Heidi-Adele am 8. Oktober 1958 einst hier auf dem Gnadenhof zur Welt brachten? Wo versteckt sich die 1,61-Meter-Frau, die so leicht wie ein Schäublechen, nein: Schäufelchen Federn ist und so zerbrechlich wirkt wie Porzellan im Elefantenhaus? Sieben Kinder hat die 60-Jährige bekanntlich geboren, die seither im „Châteaucastleschloss“ wie von Sinnen herumturnen. Enkelkinder sind noch nicht unterwegs; wie auch, das Leben auf einem Gnadenhof ist kein Ponyhof.
„Egmont, Maria Donata, David, Victoria, Sophie, Johanna und Gracia kommt ihr mal eben?“, wiehert es aus einem windigen Verschlag, der ganz aus blaugelben, handgeklöppelten EU-Fahnen besteht. Wir geben uns als Maria Donata aus und treten ein. Im Halbdunkel, dort wo es vehement nach Stracciatella, Würsten, Sonnenmilch, Schweiß und Fritten riecht, nachgerade europäisch eben, ist ein sachte schnaufendes Persönchen zu erkennen, das ein Shetlandpony, Jahrgang Silvester 1959, striegelt.
„Mami?“, rufen wir zärtlich und geben uns alle Mühe, als Maria Donata von der Leyen durchzugehen. „Ja, Schatzi, hilfst du mir mal gerade auf die alte Gurke?“ Wir heben das Wattestäbchen UvdL hübsch zierlich und adrett an, streichen liebevoll kräftig über seine aschblondgraue zubetonierte Fönfrisur. Dann zupfen wir die gestärkte, roséfarbene Hemdbluse mit starkem Stallgeruch behutsam zurecht. „Kann losgehen, Mami!“, rufen wir und geben dem dreibeinigen Shetlandpony einen fetten Klaps auf sein schütteres Hinterteil.
„Hü, Dagmar, hü und hott!“, intoniert UvdL ein bisschen piepsig, aber doch sehr polyglott. Auf dem Gelände des Brüsseler Polit-Gnadenhofs zieht jetzt professionell die Dämmerung ein. Nebenan im Nato-Hauptquartier schafskopft man hörbar, und aus der Cafeteria der Nuklearen Planungsgruppe steigen wie stets Rauchzeichen hoch. Dagmar schaukelt die bald „mächtigste Frau der Welt“ (Bild, Brüssel) in Richtung der zügig untergehenden Abendsonne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs