Die Wahrheit: Nächstenliebe und lange Nadeln
Auf der düsteren Seite des Gesundheitssystems: offene Worte einer jungen Krankenpflegerin in der Notaufnahme.
Schon früh wollte ich Menschen helfen. Die Retterin in der Not sein – und mich auch ein wenig selbst profilieren, mich auf dieser Erdenkruste als sinnvoll erweisen. Aber dann erzählte mir einer meiner Berufsschullehrer, dass Pflegekräfte, die von sich behaupten, Menschen helfen zu wollen, ihnen am ehesten Schaden zufügen. Das verunsicherte mich, und ich beschloss, mir das Leben leicht zu machen und den Menschen nicht mehr zu helfen.
Das fiel mir bereits direkt im Anschluss an meine Ausbildung sehr leicht. Um meine Wut (die ich als anständige Gesundheits- und Krankenpflegerin natürlich nicht habe) zu kanalisieren, fing ich an, in der Notaufnahme zu arbeiten.
Das Hantieren mit den langen Nadeln, die ich Menschen unter ihre Haut steche, gibt mir wenigstens für ein paar Sekunden am Tag das Gefühl, respektiert zu werden. Auch wenn der Respekt wahrscheinlich eher der Nadel als mir gilt. Denn als Krankenschwester habe ich lediglich zu funktionieren. Ich bin nur gut in meinem Job, wenn mein Helfersyndrom mich jede Nacht um den Schlaf bringt. Eigene Bedürfnisse wie Trinken oder auf die Toilette gehen stehen selbstverständlich hinten an.
Wenn ein Patient hingegen bloß mit einem eingewachsenen Zehennagel kommt, ist das der absolute Notfall. Natürlich habe ich aber für restlos alle Probleme der Patienten ein offenes Ohr, für Trennungen, Geldnöte oder sexuelle Belästigung – vor allem meiner Person.
Im Nebenjob bediene ich nämlich sexualisierte Vorstellungen und hauche knapp bekleidet und mit Spritzen in beiden Händen lüstern sämtliche Männernamen, die mir einfallen. Denn ich habe meinen Beruf nur gewählt, um eines Tages von einem starken Arzt geheiratet zu werden, damit er mir fortan die Welt erklärt.
Depressionsquelle Gehaltszettel
Als Pflegekraft sollte ich meine unwesentliche Meinung ohnehin nicht kundtun. Und wenn, dann nur nachdem alle anderen damit fertig sind. Eigentlich verdiene ich eh keine eigene Meinung, weil mein Bildungsstand so niedrig ist. Im Grunde ist es ein Wunder, dass ich der deutschen Sprache mächtig bin.
Ab 17. April übernehmen 50 junge Menschen aus ganz Deutschland zwischen 14 und 24 Jahren die taz, um mit uns eine Jubiläumsausgabe zum 40. Geburtstag der taz zu gestalten. Mehr unter taz.de/40
Für Ratschläge stehe ich aber immer gern bereit. Meine eigenen allerdings muss niemand beherzigen, schließlich kommen sie nur von einer Krankenschwester. An manchen Tagen bringt mich die gesellschaftliche Meinung über meinen Beruf mehr an den Rand der Depression als mein Gehaltszettel.
Manchmal kommt es mir so vor, als ob alle Attribute, die einer Hausfrau aus den fünfziger Jahren zugeschrieben wurden, bloß noch für die moderne Krankenschwester gelten. Schließlich, so wird mir jedes Mal erklärt, wenn ich meinen Beruf erwähne, ist mein Beruf ja auch kein Beruf sondern eine Berufung. Pflegen kann schließlich jeder, der einigermaßen nett ist.
Aber mit dem Wandel der Generationen gibt es einen Bruch in meinem Beruf. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum Pflegende in meinem Alter schon sehr schnell auf andere Berufe umschulen.
Ich habe auch keine Lust mehr, immer der Mensch mit der schönen Seele und dem artigen Gesicht zu sein. Die Last meiner Patienten will ich nicht mehr tragen, denn Rückenschmerzen habe ich jetzt schon.
Ich will das Recht haben, meinen Job auszuüben, ohne dabei nach antiquierten Vorstellungen beurteilt zu werden. Ich will genauso laut, direkt, schlecht gelaunt und so unfreundlich sein dürfen, wie es alle anderen zu mir sind – auch wenn ich bei einem kirchlichen Arbeitgeber tätig bin.
Alle Probleme der Menschheit
Die christliche Nächstenliebe, zu der ich mich sogar vertraglich verpflichtet habe, wirkt sich ja auch nicht auf meine Arbeitsbedingungen aus, die durch bürokratische Anforderungen zeit- und nervraubender sind als die Pflege selbst. Deswegen sollten wir Pfleger nicht so tun, als ob wir unendlich belastbar sind. Wir müssen nicht aus Höflichkeit alle Probleme der Menschheit tragen. Wir müssen nicht stark sein, damit andere schwach sein können. Unsere Bedürfnisse sind genauso viel wert wie die aller anderen auch.
Und du, liebe Gesellschaft: Du brauchst uns! Behandel uns bitte dementsprechend!
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!