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Die WahrheitOnkel Františeks Heimkehr

Kolumne
von Joachim Schulz

Auf einmal stand er vor ihrer Tür: der nette unbekannte Onkel. Er verschwand erst, als sie mal wieder ihre Mutter anrief. Zufall?

L ena und ich lebten seit einem Jahr in einer winzigen Zweizimmerwohnung. Wir waren kein Paar, aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, sie zu retten – ausgerechnet ich, der bei einem Schiffsuntergang bestimmt nicht zu den Helden gehören würde, die in den Unterdecks nach Eingeschlossenen suchten, sondern über die Reling spränge, ohne die Schwimmweste festzuzurren und kreischend in den Wellen versänke.

Wie Lena zu retten wäre, wusste ich genau: Sie passte nicht in die Stadt. Sie war immerzu traurig, denn sie hätte – das war klar wie ein wolkenloser sibirischer Wintertag – zurückkehren sollen in ihr Dorf am Niederrhein, um einen braven Klempnermeister zu heiraten und ein unaufgeregtes Leben zwischen Kindergeburtstagen, Grillabenden im Reihenhausgarten und Weihnachtsbäckerei zu führen.

Als ich eines Abends nach Hause kam, eilte sie mir indes mit einem strahlenden Lächeln entgegen. „Wir haben Besuch“, sagte sie, „mein Onkel!“ „Dein Onkel?“, murmelte ich. Ich hatte ihn einmal kennengelernt. Alles an ihm – seine Körperhaltung, seine Laune – machte den Eindruck, als habe er einen Spazierstock verschluckt.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er jemals jemanden zum Lachen gebracht hatte. Außer in dem Moment, als er den Stock verschluckte.

Onkel František. Aus Pilsen

„Nicht der Onkel“, sagte sie: „Onkel František. Aus Pilsen.“ „Du hast noch einen Onkel? In Pilsen?“ „Wusste ich bis eben auch nicht. Aber …“ – „Bübchen! Lass mich drücken dich an mein Herz!“, unterbrach sie ein Herr, der mich vor Wonne glucksend umarmte. „Und jetzt komm, essen!“

Er schob mich in die Küche, wo ein riesiger Topf dampfte. „Kesselgulasch nach Tante Svetjas Geheimrezept und kaltes Bier. Das sind die zwei Säulen des Glücks!“

Wir aßen und tranken und der Onkel erzählte von seinen Abenteuern. Er hatte mit Hemingway in den Bars von Havanna gesessen, mit Andy Warhol Partys gefeiert, in Woodstock gekifft. „Wir haben nur dieses eine Leben, um einen draufzumachen, Kinderchen“, sagte er, „vorher und nachher warten nur zwei lange, langweilige Ewigkeiten auf uns.“

Ich blieb misstrauisch

Ich mochte ihn – und blieb doch misstrauisch. „Wieso“, flüsterte ich Lena zu, als er auf dem Gästesofa in der Küche lag und schnarchte, „hast du noch nie was von ihm gehört? Und wie konnte er durch den Eisernen Vorhang flitschen, um mit Warhol und Jimi Hendrix zu feiern? Du musst deine Mutter anrufen!“ „Sicher“, sagte sie lächelnd, streichelte mir über die Wange und ging schlafen.

Sie rief nicht an. Abend für Abend saßen wir in der Küche, aßen die Leckereien, die der Onkel fabrizierte, lauschten seinen Geschichten. Und Lena lächelte. Bis ich ihr zuzischte: „Ruf deine Mutter an. Morgen. Sonst mach ich es!“ – Sie rief an.

Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, war er bereits fort. Zwei Wochen später zog auch sie aus: Zurück in ihr Dorf am Niederrhein, wo sie noch heute in einer Reihenhaussiedlung lebt und wahrscheinlich – denn als Retter bin ich eine Fehlbesetzung – nie mehr gelächelt hat.

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