Die Wahrheit: Gerüstgefährdung durch Kredite
Tagebuch einer Bankkundin: Es gibt viel zu viel billiges Geld in der Welt. Das ist gefährlich. Jedenfalls wenn man an eingerüsteten Häusern vorbeigeht.
M ittlerweile habe ich ein Alter erreicht, das meine Bank veranlasst, mich zum Geburtstag mit einem Kafka-Zitat zu trösten: „Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.“ Ich verstehe das als Ermunterung, unbesorgt weiter vor mich hin zu welken, während ich gleichzeitig innerlich dreizehneinhalb bleiben darf – solange ich meine Augen nicht vor den potenziellen Schönheiten meiner Umgebung verschließe.
Normalerweise gratulieren Geldinstitute ja weniger ihren Kunden, sondern sich selbst, besonders wenn der Kunde gerade einen Kreditvertrag abgeschlossen hat. Zwar kassieren die Banken im Moment keine fies hohe Zinsen, freuen sich aber über eine rekordverdächtige Anzahl von Kreditgeschäften, was sich allerorten an reger Bautätigkeit beobachten lässt.
Deretwegen hat man die Wahl, entweder – und das ist nur eine meiner zahlreichen Zwangsvorstellungen – unter plötzlich einstürzenden Baugerüsten sein Leben zu lassen oder beim vorsichtigen Umgehen derselben auf dem Bürgersteig von seltsamerweise nicht auf Fußgänger eingestellten Fahrradfahrern niedergemäht zu werden. Aufgrund der anhaltenden Niedrigzinspolitik war ich schon mehrmals kurz davor, bei der EZB Beschwerde wegen Gesundheitsgefährdung einzulegen, aber auf mich würde ja sowieso keiner hören.
Aneinandergeschmiegte Stadtvillen
Das Epizentrum der Kreditvergabe liegt übrigens eindeutig in Hamburg, wo ich neulich eine Straße nahe der schönen Alster entlangspazierte, in der sage und schreibe jedes Haus eingerüstet ist. Glücklicherweise verläuft die Straße an einem Kanal, so dass ich mich vom gegenüberliegenden Uferweg vor der Gefahr einstürzender Gerüste mit einem beherzten Sprung ins Wasser hätte retten können.
Am 25.11.2016 feiern wir im Heimathafen Neukölln in Berlin – Seien Sie dabei.
In jeder der aneinandergeschmiegten Stadtvillen entstehen laut prominent platzierter Werbetafeln „exklusive Luxuswohnungen“. Ich zählte sechzehn Häuser mit je drei Stockwerken plus Dachgeschoss und Souterrain, also mindestens achtzig Wohnungen. Ich bin nicht ganz sicher, wie man im Luxussegement das Wort „exklusiv“ definiert, denn für mich hört sich achtzigmal dasselbe nicht gerade wahnsinnig außergewöhnlich an, aber ich nahm mir vor, das Resultat zu prüfen, wenn alles fertig und noch schöner sein würde und auf diese Weise meine innere Jugend zu pflegen, schon wegen Kafka.
Am nächsten Tag las ich in der Hamburger Morgenpost, dass in der Veddel, einem sogenannten sozialen Brennpunkt, mittels Kulturförderung ein Mietshaus der stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft vergoldet werden soll.
Während die Idee des Quartierkünstlers noch kontrovers diskutiert wird, freut sich laut Morgenpost schon mal eine Nachbarin von gegenüber, auch mal auf was Schönes gucken zu dürfen. Möge sie dabei uralt werden und forever young bleiben! Kafka, der in weniger goldenen Zeiten lebte, bekam keine Glückwünsche von seiner Bank, sondern Tuberkulose und starb – innerlich wie äußerlich – jung.
Seit 25 Jahren erscheint die Wahrheit als einzige Satireseite einer deutschen Zeitung. Zeit, das zu feiern.
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