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Die WahrheitPotenter Eigenrausch

Auf ereignisreichen Seminaren stellen geschulte Fachkräfte den recht simplen Beruf des Highpraktikers vor.

Tatütata, der Highpraktiker ist nicht mehr ganz da, kommt aber bestimmt bald wieder. Foto: dpa

Jüngsten Statistiken zufolge bleiben immer mehr herkömmliche Lehrstellen unbesetzt: 20.000 junge Menschen haben sich zum Beispiel gegen eine Karriere als Koch oder Köchin entschieden, obwohl es dafür 40.000 Ausbildungsplätze gibt. Auch Fleischer und Klempner will kaum noch jemand werden.

Stephen Spicer-Göbel, im Castaneda-Resource-Center in Niedersachsen ausgebildeter und seit 50 Jahren erfolgreich im inner- wie außerkörperlichen Bereich praktizierender Homöopath, weiß, wie es ist, wenn man zu den Schulabgängern oder -abbrechern gehört, die nicht Frisörin lernen wollen oder Maler und Lackierer. Wenn man nicht Erzieher sein will, wegen der kleinen Stühle und der komischen Eltern. Spicer-Göbel weiß sogar noch, wie es sich anfühlte, als sie ihn damals bei der Lufthansa nicht genommen haben. Denn er ist jung geblieben. Seine „Verliere nicht den Mut: Berufe gibt es wie Sand am Meer“-Tagesseminare (250 Euro inklusive Tafelwasser) sollen anderen jungen Leuten Ansporn für ihre Zukunftsplanung geben.

Spontanes Inhalieren zur Selbsthighlung

„Auch ihr könnt einen Job finden, selbst wenn ihr eigentlich keine Lust habt zu arbeiten, sondern einfach nur Geld verdienen möchtet“, verrät der sympathische Leptosom seinem Auditorium. Zwölf Jungen und Mädchen sind es, die mit Smartphones spielen – es könnten auch mehr sein, Spicer-Göbel weiß es nicht genau. „Banker zu werden, ist nicht der einzige Weg, den Traum vom Geldverdienen zu verwirklichen. Überlegt doch einmal, ob der Beruf des Highpraktikers nicht etwas für euch sein könnte!“

Nicht alle Jungs wissen, was gemeint ist. Spicer-Göbel erklärt es ihnen geduldig, obwohl die plötzlich aussehen wie toltekische Gottheiten. Doch das ficht den routinierten Highpraktiker nicht an, derlei Wahnvorstellungen legen sich meist nach einigen Stunden wieder: „Die Naturhighkunde wendet sich dem ganzen Menschen zu, sie betrachtet Symptome nie isoliert, sondern stets im Zusammenhang: Wer irgendetwas hat, hat höchstwahrscheinlich auch etwas anderes. Außerdem bezieht die Naturhighkunde in ihre Behandlungsmethoden das Vertrauen in die natürlichen Eigenrauschkräfte des Menschen mit ein.“ Spicer-Göbel kommt in Fahrt. „Diese Rauschkräfte können durch den Verzehr von Muskatnüssen oder anderen Substanzen, mittels spontanen Inhalierens von Lack- oder Klebstoffdämpfen und anderen Ätherika aktiviert und für den Selbsthighlungsprozess gewinnbringend genutzt werden.“

„Ich glaub, ich kann das nicht“, sagt ein Mädchen und nimmt einen Schluck Tafelwasser.

„Brauchst du auch nicht“, weiß Spicer-Göbel die Verzagte zu beruhigen. „Im Grunde kannst du diesen Beruf sogar ausüben, wenn du gar nichts kannst und in keinem Fach jemals gute Noten hattest, noch nicht mal in Sport. Alles, was du brauchst, ist eine intakte Entgiftung. Beziehungsweise solltest du nicht gleich bei der kleinsten Überdosis Nerven zeigen. Wenn du frühkindliche Erfahrungen im Alkoholresteaustrinken oder Passivrauchen mitbringst, prima! Ist aber nicht Bedingung. Denn“, Spicer-Göbel steht die serviceorientierte Freude ins Gesicht geschrieben, „im Wesentlichen erwirbst du alle Fähigkeiten und Kenntnisse während deiner Ausbildung. Selbst wenn du zuvor noch keinen direkten, also Eigenkontakt mit Atem, Blutdruck oder Wahnvorstellungen gehabt haben solltest, lernst du dort alles darüber.“

Erstverschlimmerung ist okay

„Wie viel ist ,alles‘?“, will ein bebrillter Junge wissen, der feige wirkt und daher im Seminar eigentlich nichts verloren hat. Doch wieder bietet Stephen Spicer-Gümbel Rat an: „Keine Angst – der Highpraktikerverband stellt keine hohen Anforderungen. Meistens reicht es, Sachen anzukreuzen. Ein paar wenige Begriffe solltest du aber kennen, wenn du dich bewirbst! Also: Erstverschlimmerung ist, wenn Leute von deinen Globuli umkippen. Das ist okay, es gehört zu deinem Beruf. Hochpotenz ist, wenn du selbst von deinen Globuli umkippst. Das ist okay, es gehört zu deinem Beruf. Tagung ist, wenn du und deine Kollegen von euren Globuli gemeinsam umkippen und anschließend Polizei und Rotes Kreuz kommen. Das ist okay, es gehört zu eurem Beruf.“

„Und die Kohle?“, will ein Junge noch wissen, der sein Tafelwasser ausgetrunken hat und das seiner Nachbarin gleich mit. Diesem jungen Mann geht es offenbar nur um Profit. Stephen Spicer-Göbel versteht das. Er will eben antworten – da ertönt der finale Seminargong. Oder ist es wieder das Martinshorn?

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2 Kommentare

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  • Debatten-Georg Seesslen hat für sich, statt der bürgerlichen Familie, eine Art Feuilleton der Begrifflichkeiten gefunden, welches - sympathisch zu lesen - die Wirklichkeit am auratischen Glanz seiner Wortausdeutungen mißt. Man ist dankbar, dass die Wirklichkeit - wenigstens satirisch - mit Gitta List und den Highpraktikern bei der Taz einbricht - und man nicht sofort zu Lübberding und der Faz zurück will (Kerner statt Angela).