Die Wahrheit: Aufrecht bis in den Tod
Die Ahnenreihe der Internet-Trolle, die in Online-Foren diffamierende Kommentare hinterlassen, reicht weit bis ins analoge Zeitalter.
Ihre Nicknames lauten „Deutsches Wesen“, „Mastermind“, „Kassandra“ oder „Das Gewissen“. Sie setzen ihre Duftmarken aus Empörung und Redundanz in sämtliche Presseorgane, Foren, Blogs und soziale Netzwerke. Wie böse kleine Geister erscheinen sie unversehens, verrichten ihr hässliches Werk, und verschwinden wieder, um an ganz anderer Stelle wiederaufzutauchen. Sie sind Trolle.
Jeder glaubt, sie zu kennen, doch keiner weiß, woher sie kommen, wie sie aussehen und warum sie das machen. Um einer Antwort auf die Spur zu kommen, lege ich einen Trollköder: Ich veröffentliche einen Blog. In der ersten Zeile schreibe ich, dass auch Flüchtlinge Menschen sind. Drei weitere Seiten fülle ich dann per Copy-and-paste“ mit Bewertungen aus dem Trip Advisor. Mehr als die erste Zeile lesen Trolle nicht.
Nun brauche ich mich nur noch auf die Lauer zu legen und auf Kommentare zu warten. Und schnell beißt einer an. Der Vorwurf „Gutmensch“ in Verbindung mit Mutmaßungen über mein Liebesleben, der Hinweis auf die eigene, absolute Kompetenz sowie der rasche Bogenschlag zu seiner persönlichen Befindlichkeit und deren herausragender Bedeutung in Relation zum Weltgeschehen: Es fehlt wirklich nichts – ich habe einen kapitalen Troll erwischt!
Schon wenige Tage nach der ersten Kontaktaufnahme treffe ich den „Versteher“ in seiner schwarz gestrichenen Kellerwohnung in Berlin-Marienfelde. „Wir stammen aus einer uralten Familie“, beginnt der verhärmte Mittfünfziger nach einigen einleitenden, mich und meinen Berufsstand pauschal diffamierenden Beleidigungen. „Echte skandinavische Waldtrolle. Meine Urahnen hatten noch kleine Hörnchen, scharfe Hauer und Tarnkappen. Im Winter kratzten sie Elchen die Augen aus und tranken ihr Blut, im Sommer lockten sie Wanderer in die Sümpfe.“
Er zeigt mir einen Stammbaum, der bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreicht: Rassisten, Besserwisser, Nervtöter – das wimmelnde Geflecht erinnert an die Nester von Deutscher, Gemeiner und Hundsgemeiner Wespe. Doch wie entwickelte sich der Weg vom Fabelwesen hin zum Meinungstroll moderner Prägung?
Vermischung mit Rechtspopulisten
„Das mit den Elchen und den Wanderern hat sich irgendwann überlebt“, erklärt mein Gegenüber. „Auch ein Troll muss mit der Zeit gehen. Dazu kommt, dass wir Trolle uns über die Jahrhunderte hinweg immer mehr mit Menschen gemischt haben – zunächst mit Betschwestern und Scharfrichtern, später mit Frührentnern, Hochschulprofessoren oder Rechtspopulisten – und so auch vermehrt menschliche Gestalt angenommen haben. Im Alltag, fern unseres Lebensraums in den Leserbriefseiten und Kommentarspalten, sind wir Trolle nun nicht mehr ohne weiteres als solche auszumachen.“
Während ich sinniere, inwieweit eine beleidigte Leberwurst, die von morgens bis abends geifernd in die Tasten hackt, noch unter die Definition „menschliche Gestalt“ fällt, greift der „Versteher“ nach einer Schatulle mit zahllosen alten Briefen: „Die Beschwerdebriefsammlung meines Ururgroßvaters.“
An manchen Stellen muss derartige Wut die Hand geführt haben, dass die Tintenfeder das Papier perforiert hat. „Die Reichspost zeigt sich durch und durch verfault“, schäumt der Verfasser ohne Anrede los, bevor er in gleichsam derben wie gewählten Worten auf die mutmaßliche Homosexualität des Stammbriefträgers, in einer obszönen Bordellmetapher auf den Preis der Briefmarken und schließlich auf die vermutete jüdische Herkunft des Reichspostministers eingeht. „Es wird einen Scheißsturm geben“, endet das auf 1881 datierte Schreiben mit der ersten urkundlich belegten Erwähnung des Begriffs, „der euch nichtsnutziges Pack für immer hinwegfegen wird.“
Unbedingt unsachlich
Noch älter ist das Dokument, das einen anderen Urahn in heftiger Fehde mit dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm dokumentiert. Es sind nur noch Bruchstücke lesbar, „Seine Majestät … Arschloch … Wirtschaftsflüchtlinge …“, mit denen der Troll die Entscheidung des Königs kommentiert, den Hugenotten in Preußen Asyl zu gewähren. Am Ende des Schriftverkehrs steht eine Hinrichtungsurkunde: „Dekapithiereth zu Pottsdamm am 15. Juley des Jahres 1687 A.D., gez. Fridericus“.
„Ein Märtyrer“, sagt der „Versteher“ stolz. „Die Unsachlichkeit steht über allem: Ein aufrechter Troll bis zum Tod.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland