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Die WahrheitWeg vom Fenster, hin zum Coach

Eine Visite bei dem Stuttgarter Psychologen Julian Herwig, der in seinen Selbsthilfegruppen Patienten mit Abstiegsängsten behutsam betreut.

Bild: Leo Riegel

„Erst einmal ist es positiv zu bewerten, dass es hierzulande doch mehr Menschen gibt, die die Arbeit von Psychologen zu schätzen wissen, als gemeinhin angenommen wird“, meint Julian Herwig von der Bundesvereinigung der Selbsthilfegruppen von Abstiegsängsten geplagter Menschen (BSAM). Und trotzdem kann er nicht verhehlen, dass ihn der Ansturm auf die in der BSAM organisierten Beratungseinrichtungen überrascht. In den letzten vier Wochen habe sich die Zahl der Anmeldungen mehr als verdoppelt. Die Psychologen stünden vor völlig neuen Herausforderungen.

„Mit Fußball“, erzählt Herwig, „hatte ich bislang eher wenig am Hut.“ Der 47-jährige Diplompsychologe, gedrungen und drahtig zugleich, der als Coach darüber hinaus Selbsthilfegruppen betreut, setzt in seiner eigenen Praxis auch auf Qigong-Übungen, um bei den Teilnehmern psychische Verkrampfungen durch Bewegung zu lösen. „Das ist mein Sport“, meint er und lächelt.

Herwig versucht, sich jetzt auf die neue Situation einzustellen, „auch wenn wir Abstiegsängste bislang hauptsächlich in anderen Zusammenhängen bearbeitet haben“. Die Anhänger das VfB Stuttgart, die sich in den vergangenen Wochen zur Beratung angemeldet haben, hätten aber auch, so Herwig, seinen Horizont erweitert. Das Phänomen des „direkten Vergleichs“ werde zwar in der Psychologie durchaus schon lange diskutiert, erläutert der Wahlschwabe, während er die Sitzbälle in seinem Therapieraum im Stuttgarter Stadtteil Degerloch nach Farben sortiert. „Welche Bedeutung es haben kann, weiß ich allerdings erst, seit ich mich mit den Abstiegsängsten von Fußballanhängern beschäftige.“

Heinz Karstens (Name von der Redaktion geändert) ist einer der Neuen in Herwigs Einrichtung. Es fällt ihm nicht leicht, einem Medienvertreter gegenüber über seine Probleme zu sprechen. Das Phänomen des „direkten Vergleichs“ indes kann er schnell erläutern. „Wenn der HSV gegen Schalke siegt, Paderborn gegen Stuttgart 0:0 spielt und Hannover 2:4 gegen Freiburg verliert, dann sind der VfB und 96 punkt- und torgleich Vorletzter. In dem Fall entscheidet der direkte Vergleich aus Hin- und Rückspiel. Den hat Stuttgart gewonnen. 1:0 und 1:1. Heißt: Relegation für den VfB, Abstieg für Hannover.“

Vergleich aus der Flasche

Karstens setzt sich auf einen roten Therapieball und nimmt einen tiefen Schluck aus der Bierflasche (Oettinger), mit der er Herwigs Praxis an diesem Donnerstagnachmittag betreten hat. „Fürs Erste könnte ich damit natürlich halbwegs leben“, fügt er hinzu und setzt die Flasche ein weiteres Mal an.

„Herr Karstens ist nicht der Einzige, der glaubt, seiner Angstzustände mithilfe von Alkoholgenuss Herr werden zu können“, erläutert Psychologe Herwig. Nun muss Karstens ein wenig grinsen: „Dann wären diese Drecksniedersachsen erst mal weg vom Fenster!“, sagt er und wirft das Oettinger-Bier gegen die WC-Tür der Herwigschen Praxis. Der Psychologe muss lächeln. „Wir kennen das“, sagt er. „Aggression nach unten als Ausprägung einer eigenen Abstiegsangst kommt immer deutlicher zum Vorschein“, sagt er und macht sich daran, die Scherben zusammenzukehren.

Etliche wissenschaftliche Erhebungen belegen Herwigs Einwurf. In der Studie „Eine Frage der Klasse? – Deutschlands Mitte zwischen Abstiegsangst und dem Tritt nach unten“, die im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg erstellt worden ist, heißt es etwa: „Es mehren sich Vorurteile und Ressentiments, besonders gegenüber denjenigen, die als schwächer wahrgenommen werden.“ Herwig weiß nur zu gut, dass das stimmt. Einen wie ihn kann nicht wundern, was Karstens jetzt androht: „Und wenn wir gegen die Dreckskarlsruher in der Relegation spielen, dann wird es Tote geben.“

Herwig schätzt an seinen Fußballpatienten vor allem ihre Offenheit, die man getrost als entwaffnend bezeichnen kann. Die meisten Männer, die in seinen Selbsthilfegruppen Zuspruch suchen, brauchen mehrere Sitzungen, bis sie bereit sind, sich zu öffnen. Herwig erzählt von leitenden Angestellten in der Industrie, die nicht zugeben wollen, dass sie unter Schlaflosigkeit leiden, weil sie immer dann fürchten, die Mitgliedsbeiträge für den Golfklub schon bald nicht mehr aufbringen zu können, wenn sie das Wort „Krise“ in den Nachrichten hören.

Andere fragen sich, ob es richtig ist, ihre Kinder in einen Vorschulsprachkurs für Chinesisch zu schicken, und scheuen sich, zuzugeben, dass sie Angst vor der gelben Gefahr aus dem Osten haben. Und viele wenden sich an Herwig, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen in einer Arbeitswelt, für die sie alles geben, und sich als Ausgleich doch nicht viel mehr leisten können, als zwei Wochen im Jahr zum Heliskiing nach Colorado zu fliegen.

Wo denn da die Leistungsgerechtigkeit bleibe, fragten sich da viele, so Herwig. „Leistungsgerecht! Wenn ich das schon höre!“ Heinz Karstens erinnert an das 2:2 des VfB Stuttgart gegen den SC Freiburg neulich. „Wenn ich das schon höre, dass das ein leistungsgerechtes Unentschieden gegen diese Wichser gewesen sein soll!“

Verelendung vom Feinsten

Es ist die Angst vor der Verelendung, die Sorge, sich schon auf direktem Weg in Richtung Hartz IV zu befinden, die die Menschen in die von Herwig geleiteten Selbsthilfegruppen treibt. „Viele, die sich lange auf der sicheren Seite glaubten, beobachten Prekarisierungstendenzen in der unteren Mittelschicht und den Unterschichten und fürchten, dass es ihnen bald genauso gehen könnte“, heißt es in einer detaillierten Studie, die die Hans-Böckler-Stiftung 2014 zum Thema Abstiegsängste veröffentlicht hat.

Herwig kennt diese Studien und auch solche, die die Ängste der Oberschicht beschreiben. Und so hat es ihn nicht gewundert, dass sich bei den Kollegen der Bundesvereinigung BSAM auch Anhänger des FC Bayern eingefunden haben, die mit ihrem Leben als Mensch und Fan nicht mehr zurechtkommen. „Ich kann inzwischen sehr gut nachempfinden, was es bedeutet, sich einem Klub zugehörig zu fühlen, der nach dem Triple das Double und nun nur noch das Uno gewonnen hat. Was danach zu kommen scheint, liegt für die Fans auf der Hand: das Nichts!“

Verständnis für Bayern

Heinz Karstens nickt. Statt einer Bierflasche hat er nun zwei Qigongkugeln in seiner rechten Hand, die er in der Handfläche kreisen lässt. „Bayernfan möchte ich nun wirklich nicht sein“, sagt er. „Wir haben acht Spiele in dieser Saison gewonnen und uns über jeden einzelnen Sieg gefreut. Die Bayern haben 24-mal gewonnen und sich vielleicht nie so richtig freuen können.“ Herwig wirft einen stolzen Blick auf Karstens. „Sehen Sie“, sagt er. „Das ist es, was wir erreichen wollen mit den Selbsthilfegruppen – dass alle Verständnis für die Sorgen der anderen entwickeln und dabei überlegen, wo sie selbst mit ihren Problemen stehen.“

Der Klang der Qigongkugeln hat Karstens sichtlich beruhigt. Milde sagt er: „In der Haut eines Paderborner Provinzpudels möchte ich auch nicht stecken.“ Wenn er am Samstag zum für seinen Klub so wichtigen Auswärtsspiel nach Paderborn fährt, will er die Meditationskugeln auf jeden Fall mitnehmen. „Zur Beruhigung“, sagt er und grinst. „Oder eben für den Fall der Fälle.“ Julian Herwig verschränkt die Arme und seufzt.

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