Die Wahrheit: Der Meinungsspreizer
Am Stammtisch des Feuilletons fühlt er sich am wohlsten. Denn Harald Martensteins Texte haben die argumentative Tiefe eines Frühstückbrettchens.
Harald Martenstein ist ein Tausendsassa: Er schreibt Bücher, Artikel für den Tagesspiegel und das Zeit-Magazin – und sowieso so ziemlich alles, was sich in Deutschland Kolumne nennen darf. Dabei hat er zu jedem Thema von Unisex-Toiletten über Rainer Brüderle bis hin zu Israel eine Meinung, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie anders ist als das, was alle anderen schreiben. Hauptsache, er wird nicht für links, liberal oder gar intelligent gehalten.
Als im vergangenen Jahr die Ruderin Nadja Drygalla die Olympischen Spiele verließ, war er überwältigt von der romantischen Liebe zu ihrem NPD-Freund und fantasierte eine Gesellschaft herbei, die auf ungute Weise an die Jahre des RAF-Terrors erinnere. Und als tout Berlin über Rassismusvorwürfe gegen Heinz Buschkowsky und sein Buch diskutierte, schrieb Martenstein einen Text, der so auch in der Jungen Freiheit hätte gedruckt werden können: Sein Sohn und dessen Freunde vermieden es, bei Dunkelheit in die Nähe des Kottbusser Tores in Berlin-Kreuzberg zu gehen, weil sie zu deutsch aussähen.
Er selbst sei einmal von zwei jungen Männern mit türkischem Akzent geohrfeigt worden, nachdem sie ihn um Zigaretten angegangen hatten. Grund genug für Martenstein, sich auf einer Stufe mit den Opfern von Antisemitismus und Rassismus zu wähnen, denn dass er nicht als Opfer wahrgenommen wird, scheint ihn zu wurmen: „Ich bin, wie gesagt, traumatisiert, vielleicht sogar verbittert durch die Tatsache, dass ich zu keiner einzigen gesellschaftlichen Opfergruppe gehöre“, schreibt er.
Da nimmt es nicht weiter Wunder, dass Martenstein – als Jakob Augstein auf der Liste der schlimmsten antisemitischen Verunglimpfungen des vergangenen Jahres landete – sofort den Finger reckte und auch darauf wollte, zusammen mit Mahmud Ahmadinedschad und den Muslimbrüdern.
Martenstein versöhnt die Stimme des Stammtischs mit dem Stil des Feuilletonisten – was zur Meinungsspreizerei unangenehmster Ausmaße führt. Zuletzt entblödete er sich nicht mal, die rechtsextreme Gröhl-Band Frei.Wild in Schutz zu nehmen und die von ihr verwendeten Wörter „Helden“ und „Volk“ mit David Bowies „Heroes“ und John Lennons „Power to the People“ in Zusammenhang zu bringen.
Martensteins Texte haben die argumentative Tiefe eines Frühstückbrettchens, und die Erklärung dafür liefert der Kolumnist unumwunden frei Haus: Statt zehn Minuten in eine eigene Recherche zu investieren, hat er sich „die wichtigsten Textbelege für den Rechtsradikalismus dieser Band“ aus ein paar anderen Artikeln zusammengeklaubt. Denn: „Hey, die Ankläger werden doch hoffentlich in ihrer Anklage die härtesten Stellen bringen, oder?“ Frei nach dem Motto: Je weniger ich weiß, desto leichter ist es, eine Meinung zu haben. Und eine Meinung hat Martenstein schließlich zu allem.
Am Ende seiner Texte entschuldigt sich Martenstein sicherheitshalber gern für den Fall, dass er irgendjemandes Gefühle verletzt haben sollte – wobei man selbstverständlich ahnt, dass er sich die ganze Zeit diebisch freut, dies zu tun.
Fragt sich nur, was einen einst klugen Kopf wie Martenstein treibt, sich selbst so zu desavouieren? Ist es die Suche nach Anerkennung in Form eines Shitstorms? Ist es die Pose des Rebellen, mit der Martenstein gegen das Alter anschreibt? In einem Artikel für den Tagesspiegel versuchte sich der Sozialpsychologe Hans-Jürgen Wirth vor einiger Zeit an einer psychologischen Erklärung für das Verhalten zweier Schriftstellergranden: „Mit dem wachsenden Weltruhm schoss bei Grass wie bei Walser die Eitelkeit ins Kraut“, formuliert Wirth. „Das Ergebnis ist eine Selbstüberhöhung, die im Alter groteske Formen annimmt. Der Altersnarzissmus hat begonnen, ihre Persönlichkeit zu untergraben, ihre soziale und politische Sensibilität zu zerstören und ihre kritische Selbstreflexion auszuschalten.“
Bei Martenstein scheint dieser Irrsinn schon ein bisschen vor der Zeit zu beginnen. Mit Worten wie „hey“ und „sorry“ in seinen Texten versucht er das Bröckeln der Jugend zu kompensieren, um allen zu zeigen, was für ein „alter Rock ’n’ Roller“ er ist. Mit seiner „Ich schreib immer was anderes als alle anderen“-Attitüde mimt er den Revoluzzer. Noch einmal Hans-Jürgen Wirth: „Das Altwerden geht mit Kränkungen einher, die das seelische Gleichgewicht auf eine harte Probe stellen. Zu den fundamentalen narzisstischen Kränkungen gehört das Nachlassen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit ebenso wie das Überflügeltwerden durch Jüngere und das Nachlassen der sexuellen Potenz.“
Aber hey – so genau wollten wir das gar nicht wissen. Und komm uns jetzt keiner mit der hohen Kunst der Ironie. Das sei ja alles „ironisch gemeint“. Wenn Harald Martenstein ein Meister der Ironie ist, dann ist Mahmud Ahmadinedschad der Woody Allen von Teheran.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin