Die Ukraine nach Russlands Einmarsch: Einfach unvorstellbar
Ich möchte an eine Zukunft glauben, in der Putin der Verlierer ist und Ukrainer:innen in ihr Land zurückkehren können. Nur: Es geht nicht.
A m Tag vor dem Angriff auf die Ukraine gab es eine Zukunft. Seit vorvergangenem Donnerstag ist sie nur schwer vorstellbar. Wenn Russland sich militärisch durchsetzt, dann wird es diese Ukraine nicht mehr geben, höre ich jemanden im Radio sagen. Ich kann diesen Satz kaum glauben, weil er eine Zukunft formuliert, die für mich aktuell nicht greifbar ist. Eine Zukunft ohne dieses Land gibt es für viele nicht: für Ukrainer:innen nicht, ebenso wenig für ihre Angehörigen und Freund:innen.
Zukunft ist für mich zu einem abstrakten Wort geworden, das ich nur schwer mit Konkretem füllen kann. Ich sehe Videos eines Grenzübergangs im Westen der Ukraine, den ich seit Kindheitstagen unzählige Male überquert habe. Mit dem Zug, dem Auto, in einem Minibus, einer sogenannten Marschrutka, und auch zu Fuß. Nun laufen dort Menschenmassen auf; junge Frauen mit Babys im Arm, Kinder und Alte. Ihre Gesichter sind müde, verhärtet.
Wo es kein Morgen gibt, geben Nachrichten Struktur. Nach den Meldungen am Morgen will ich mich meistens wieder hinlegen. Aber das geht natürlich nicht. Stattdessen, weitere Meldungen lesen, Telegram-Chatgruppen durchforsten, bei Freund:innen nachfragen: Leben deine noch? Geht es allen gut?
In den vergangenen Tagen hörte ich immer wieder, dieser Krieg werde auch hier in Deutschland ankommen und Auswirkungen auf dieses Land haben: weil Flüchtlinge aus der Ukraine ankommen werden und die Gaspreise womöglich steigen könnten. Der Krieg berührt Deutschland aber jetzt schon auf ganz andere Weise.
Ukrainer:innen sind keine Minderheit
2,7 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion migrierten seit Ende der 80er Jahre nach Deutschland, viele von ihnen auch aus der heutigen Ukraine. Allein in Brandenburg und Berlin, wo ich wohne, leben knapp 18.000 Menschen mit ukrainischen Pässen. Ukrainer:innen sind hier keine Minderheit.
Wie schon 2014, nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine, zeigt dieser Angriffskrieg nun, dass er nicht weit weg, sondern nah ist. Damals nur wollten das die wenigsten hören. Statt sich Gedanken über die Zukunft der Ukraine zu machen, führte man lieber Dialoge mit Russland.
Jetzt geht wieder ein Riss durch manche Familien. Um die einen sorgst du dich, die anderen hast du an Putins Propaganda verloren. Du könntest noch so laut schreien, dass gerade Bomben auf dein Haus fallen, sie werden dich nicht hören. Auch das schmerzt. Wie wird man sich je wieder begegnen und in die Augen schauen können?
Eine Freundin, deren Familie im ostukrainischen Charkiw festsitzt, ist seit Tagen in einem Ohnmachtsgefühl gefangen. Es fühle sich an, als sei in ihrem Kopf eine Bombe explodiert, sagt sie. Ich kann sie kaum mehr sehen, sie verschwindet hinter Zigarettenrauch. Sprechen fällt schwer, einfacher ist weinen. Die ersten Tage des Angriffskriegs konnte ich nicht weinen und schämte mich. Dann irgendwann kamen mir doch die Tränen und ich schämte mich noch viel mehr. Wem nützen meine Tränen?, dachte ich. Den Ukrainer:innen? Dieser Freundin? Mir selbst?
Ich habe keine enge Familie in der Ukraine, das fühlt sich heute an wie ein Privileg. Und doch berührt es dich auf eine besondere Weise, wenn du die Orte, die Straßen und Denkmäler, auf die plötzliche Bomben fallen, kennst. Wenn Orte deiner Kindheit und Jugend verschwinden, Tag für Tag, und du nicht weißt, wann du je dorthin zurückkehren wirst.
Ich möchte gerne an eine Zukunft denken, in der Putin der Verlierer ist und Ukrainer:innen in ihr Land zurückkehren können. Solange Bomben auf Menschen abgeworfen werden und in ihren Köpfen hier explodieren, wird das nicht gehen.
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