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Die StreitfrageKinder auf Bäumen

Laut einer Studie klettern nur noch wenige Kinder auf Bäume. Natur erleben sie nicht, weil E-Spielzeug wichtiger wird oder Eltern Angst haben.

Sie sind oben: Kletternde Kinder in einem Baum. Foto: dpa

Eichhörnchen und Rehe im Wald beobachten, Staudämme im Bach bauen und auf den Baum des Nachbarn klettern, um sich die Hosentaschen mit Kirschen vollzustopfen: So war sie, unsere Huckleberry-Finn-Kindheit. Im Idealfall. Die schönste Zeit des Tages begann, wenn die Schule vorbei war und man fern von strengen Blicken Erwachsener bis zum Abendessen draußen mit seinen Freunden unbeschwert herumtoben konnte.

Heute beschränkt sich der Kontakt zur Natur von Kindern auf das Hintergrundbild ihres Computers oder Tablets. Kleinkinder wischen und streichen über ihre elektronischen Geräte, bevor sie „Mama“ oder „Papa“ sagen. Tomaten und Möhren wachsen ihrer Meinung nach im Supermarkt, wilde Tiere gibt es nur hinter Gittern im Zoo und auf Bäume klettern sie – fest in den Sicherheitsgurt eingeschnallt – höchstens zweimal im Jahr beim betreuten Klassenausflug in den Kletterwald.

Diese angebliche „Naturferne“ deutscher Kinder wurde kürzlich auch in einer Studie der Deutschen Wildtier Stiftung empirisch festgestellt. Eltern wurden gefragt, wie viel Zeit ihre Kinder noch in der Natur verbringen. Das Ergebnis hätte Mark Twain zum Weinen gebracht: Knapp die Hälfte aller Kinder zwischen vier und zwölf Jahren sei noch nie selbstständig auf einen Baum geklettert. 22 Prozent der befragten Eltern gaben an, dass ihre Kinder „nie oder fast nie“ einem frei lebenden Tier begegnen.

Wer hat Schuld an der Naturentfremdung unseres Nachwuchs? „Einer der Gründe könnte die neue Ängstlichkeit der Eltern sein“, sagt Michael Miersch von der Deutschen Wildtier Stiftung. Über die Hälfte der befragten Eltern – insbesondere die jüngeren unter ihnen – würden ihr Kind nicht im Wald spielen lassen, ohne dass ein Erwachsener daneben steht. Das sei einfach viel zu gefährlich.

Nie alleine im Wald

Gefahren: überall lauern sie. Und am ehesten dort, wo keine Erwachsenen sind um auf die tollpatschigen, gefährdeten Kinder aufzupassen, sagen die befragten Eltern. Früher war es nichts Besonderes, wenn Kinder mit einer Schramme am Knie vom Spielen nach hause kamen. Sie wurde schnell mit einem Pflaster verarztet. Heute betritt ein Kind kaum mehr ohne orange Warnweste die Außenwelt. Nichts geschieht mehr ohne irgendeine Form der Beaufsichtigung. Immer muss jemand auf die Kinder aufpassen.

Dabei ist das unbeschwerte und selbstständige Spielen in der Natur wichtig für die kindliche Entwicklung. „Spielen im Wald, auf Wiesen und an Bächen fördert nicht nur die motorischen Fähigkeiten, sondern auch das Sprachvermögen, das Selbstbewusstsein und die soziale Kompetenz“, heißt es in der Studie.

Doch ist es wirklich schon soweit, dass wir in Deutschland von einem Natur-Defizit-Syndrom, wie amerikanische Wissenschaftler diese Entwicklung nennen, sprechen müssen? Werden Kinderspiele immer mehr ins Elektronische verlagert? Bilden sich bald unsere alten Kletter-Zehen noch mehr zurück, um dem evolutionären Siegeszug des super-agilen Smartphonedaumen zu weichen? Ersetzt das Tablet bereits den alten, heiß geliebten Kletterbaum?

Klettern ihre Kinder noch auf Bäume? Wir suchen kurze Beschreibungen von Kindern über ihren liebsten Kletterbaum oder von Kindern, die Klettern nicht mögen. In der taz.am wochenende vom 11./12. Juli 2015 veröffentlichen wir ein oder zwei besonders schöne Schilderungen. Der kurze Text sollte nicht mehr als 400 Zeichen umfassen und mit Namen, Alter, einem Foto des Kindes und der E-Mail-Adresse der Erziehungsberechtigten versehen sein. Schicken Sie uns bis Mittwochabend eine Mail an: streit@taz.de

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13 Kommentare

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  • Früher gab es mehr Kinder - da war es nicht so schlimm, wenn mal eines vom Baum viel.

  • Durch solch eine überzogenes Sicherheitsbedürfnis werden Lebensängstler erzogen, die kein Risiko mehr einschätzen können. Sie dürfen keines mehr selbst eingehen und entwickeln kein Gefühl für die eigene Kraft und Leistungsfähigkeit.

    Ein Beispiel, das leider kein Witz ist: Mutter mit Kind geht einkaufen. Kind hält einen Helm in der Hand. Als beide den Laden verlassen, setzt das Kind den Helm auf. Beide gehen zu Fuß weiter, ohne Fahrrad, ohne Roller. Das ist krank!

    • @finches:

      Risikokompetenz war nach meiner Erfahrung noch nie eine geschätzte Eigenschaft in Deutschland.

       

      Ohne jede Risikokompetenz kann man sich halt leichter um eigene Entscheidungen drücken, und irgendwelchen "vorgekauten Unfug" übernehmen.

  • Ich arbeit im Kindergarten. Vor ein paar Wochen haben wir die Kinder gefragt, wohin sie denn gerne mal einen Ausflug machen. Der fast einstimmige Wunsch: auf die Streuobstwiese zum auf Bäume klettern! Also haben wir uns die Sonnenhüte aufgesetzt und sind losgezogen durch das hohe Gras, welches von den Kindern sofort als Dschungel getauft wurde, hin zu den Kirschbäumen. Dort haben wir dann zusammen den ganzen vormittag auf den Bäumen verbracht: 40 Kinder, 7 Erwachsene und unzählige Kirschen :) Wer jetzt noch sagt, Kinder klettern nicht mehr gerne auf Bäume, liegt gewaltig daneben!

  • Hahaha, ich hatte vor kurzem ein schönes Erlebnis. Mein Sohn und ich hatten eine Slackline an zwei Bäumen gespannt. Prompt wollte eine Dame der Nachbarschaft des Parks die Polizei rufen. Sie war sehr empört. Seit die Bäume da ständen "wären sogar mal Kinder dort rauf geklettert". Die stehen schon 15Jahre! Sind dick und solide, aber die hatte Angst sie fallen um, wenn wir so etwas machen. 30 Zentimeter über dem Boden!! Vom Hebelgesetzt hatte sie keine Ahnung wie es scheint.

    Mein Sohn wäre abgezischt, der hört wenn erwachsene schimpfen. Aber bei so einem Unsinn schwillt mir der Kamm.

  • & nochens -

     

    Astrid Lindgren hat in ihrer unnachahmlichen Weise der notwendigen

    öh kinderemanzipatorischen

    Haltung/Einstellung ein -,auch ahnungsvolles - Denkmal

    gesetzt - in

    Das verschwundene Land.

     

    Aber die 'langgezogenen Kinder' -

    im Jargon meiner Kids - sehen gern

    den Wald - vor lauter Bäumen

    (…bitte selbst einsetzen;) - nicht.

  • zuerst muss mal ein Baum zum klettern da sein, als Ersatz bietet man Kindern, deren Eltern ein Haus haben Trampolin und Plastikgeräte an so einfach wie in meiner Jugend ist das heute nicht mehr, zu meiner Zeit war die Schule im 12 Uhr aus, Mama und Papa waren arbeiten, der Wald und seine Gewässer, heute zubetoniert, war in der nähe, klar möchten die Kinder heute noch klttern, aber die Erwachsenen mit ihrer neuen UMwelt genzen das alles ein zudem werden Kinder heute durch allerlei Kurse. Reitclub usw in ihre Freizeit eingegrenzt, da ist sicher ein Kurs im WEge. man pauckt lieber französische Vokabeln usw

  • Leider kann ich das aus pädagogischer Sicht nur bestätigen. Heutige Durchschnittseltern aus dem ökologisch-kleinbürgerlich-bis Möchtegern-großbürgerlichem Dunstkreis sehen im Projekt "Kind" die Erfüllung ihrer Sehnsüchte ein hohes Sozialprestige zu erlangen. Damit diese Lustprodukte auch stets vorzeigbar sind und im Ranking mit Nachbars Blagen bestehen können, dürfen sie weder Kratzer, Beulen noch Pflaster tragen.

     

    Die "Sicherheitsbranche" verdient Unsummen mit der Aufdeckung möglicher Gefahren und verunsichert aus kaufmännischen Gründen die Eltern. Klassenausflüge müssen heute unter straffer militärischer Führung erfolgen, wobei am besten vorher die Strecke abzugehen ist um mögliche Gefahrenschwerpunkte bereits in der Planung zu dem Ausflug vorher im Unterricht eingehend vorzubereiten und zu behandeln.

     

    Verbeamtete Feigheit, ein Qualitätsmerkmal für ein erfolgreich absolviertes Referendariat lässt bereits den Junglehrer präventiv auf Phantasiereisen im Unterricht mögliche Gefahrensituationen durchspielen und präventives Denken für den allseits umfassenden Präventionsstaat üben. Schließlich will man ja in drei Jahren eine A14- Funktionsstelle inne haben.

     

    Kinder sollen konsumieren und nicht klettern. Das ist schließlich gelebte marktkonforme Demokratie. Aus diesem Grunde sieht der moderne Klassenausflug den halbstündigen Besuch im Hochseilgarten vor, damit soziale Kompetenzen eingeübt werden können und danach können ökonomische Kompetenzen in dem benachbarten Konsum-Tempel durch mehrstündiges Shopping erworben werden, was das Portefeuille (neuester pädagogischer Schrei in den Studienseminaren) hergibt.

     

    Für Sicherheit und Ordnung ist durch die allgegenwärtigen "Security-Mitarbeiter" gesorgt. Eine schöne, sichere und pädagogisch keimfreie Kindheit.

     

    Frei lebende Tiere haben Flöhe, Zecken und stinken. Bäume sind morsch und krank. Alles das gibt es in der virtuellen Welt nicht, was doch viel besser ist, nicht wahr?

    • @achterhoeker:

      An dieser Stelle den Lehrern wiedereinmal die Schuld zu geben, zeugt von "Gesellschaftsblindheit"! Wer auch nur ansatzweise den Schulalltag kennt, weiß, dass die Leher heute erstens in sehr engen gesetzlichen und organisatorischen Rahmenvorgaben arbeiten. Hier ist nicht viel Freiraum geboten. Und zweitens werden Lehrer heute schon bei einer 3- von den Eltern des Sprösslings verklagt wegen "schlechter Behandlung", "Diskriminierung" oder ähnlichem. Ein Lehrer kann sich - sofern er den Beruf weiter ausüben will - nicht leisten, dass sich ein Kind irgendwo unkontrolliert von einer Gruppe entfernt, auf einen Baum klettert und womöglich einen gebrochenen Arm davonträgt.

  • ...was soll's, die Bäume wird's freuen.

  • Helikoptereltern -

    noch Fragen?

     

    Isabel Allende hat irgendwo erzählt -

    wie es sie gefuchst hat - daß sie plötzlich nicht mehr wie gewohnt auf Bäume klettern durfte - weil ihr unter den Rock geguckt werden konnte.

    Meine kletterbegeisterte Mutter03 sprang besonders gern auf fahrende

    Straßenbahnen & Züge auf wie ab.

    (gelobt sei der Perron;)

     

    Wald! - stunden&tagelanges Eldorado;

    Vogelhütten aus Adlerfarn; Eiswanderungen mit Schlitten auf Bächen/Seen - Baumhütten - Bandenkriege - gewilderte Kaninchen

    etc usw - ja. ->"… daß du die Vögel Bäume Pflanzen alle so kennst! - ja öh - Wieso - du nicht?!"

     

    Aber wenn die kids schon mit Helm App

    &chip geboren werden - kommt er halt

    nur noch in Grimms Märchen vor.

  • Es hat sicher mehrere Ursachen.

    Heute morgen kam ein Bericht im Radio über das Schwimmverhalten der Kids.

    Auch hier weden Defizite festgestellt. Ich sehe doch selbst, dass mein Jüngster seltener im Schwimmerbecken schwimmt und sich vermehrt die Jugend im Nichtschwimmerbecken sammelt. Was nicht unbedingt nur an den Schwimmkenntnissen liegt, sondern auch an der Verdrängung von resoluten Rentner, die jedes wasserspritzende Kraulen oder jede Arschbombe mit Zetern quittieren. D.h es ist eine Verinselung der Kindheit in einer kinderärmeren Umgebung bei gleichzeitiger Vergreisung der Gesellschaft, Kinderbandenbildung funktioniert so nicht. Dazu kommt die institutionelle Kinderbetreuung in Schulhorts, die wegen Kontrolle die Kinder nicht unbeaufsichtigt lassen. Ein größeres Bewußtsein für pysische Gefahren der Kinder von Seiten der Erwachsenen und eine Überanpassung der Kinder an ihre Umgebung. Denn Kinder steigen nicht nur nicht mehr auf Bäume, sie steigen auch nicht mehr über Zäune oder spielen auf verbotenen Gelände. Es gibt klar zwei gegenläufige Entwicklungen extrem angepasste Kinder und auf der anderen Seite vermehrt aggressive Kinder. Beides erscheint mir nicht sehr gesund zu sein. Die Kinder selbst erleben sich zunehmend als gesellschaftlich unerwünscht.