Die Nachwendegeneration: Bananen mit Beigeschmack
Unsere Autorin begreift sich als ostdeutsch – aber erst seit sie mit Vorurteilen westdeutscher KommilitonInnen konfrontiert wird.
Wir sitzen auf der Wiese an der Unibibliothek und trinken Sternburg. Vor dem Glasgebäude hat sich eine Schlange gebildet. Der Studierendenrat verteilt Werbegeschenke und Studierende stehen an, für Gratisgummibären und Kugelschreiber. „Was gibt’s da?“, fragt einer meiner KommilitonInnen. „Bestimmt Bananen – das ist hier doch Mangelware“, raunt ein anderer, und sie kriegen einen Lachanfall. Müdes Lächeln, dann legt sich meine Stirn in Falten. „Kriegt euch wieder ein, die Mauer ist weg“, denke ich und versuche dabei, amüsiert zu wirken.
Ich bin 20 Jahre alt, geboren in Leipzig, neun Jahre nach dem Ende der DDR, die Jüngste einer siebenköpfigen Familie. Mit dem Abitur in der Tasche leistete ich einen Freiwilligendienst in Peru. Die Distanz zu Deutschland ließ mich das erste Mal über Herkunft nachdenken. Als ostdeutsch verstand ich mich nicht. Mit einer schwedisch-dänischen Mutter und einem Vater aus dem Ruhrgebiet erschien mir diese Bezeichnung falsch. Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Osten blieb aus. Geboren war ich in Deutschland. Das reichte.
Meine Eltern kamen im August 1993 von Inzlingen nach Leipzig. Mein Vater arbeitete als Architekt, im Osten boomte das Bauwesen. Als er hier Arbeit fand, waren die Nachwirkungen der DDR noch deutlich spürbar: „Am Anfang gab es keine Festnetztelefone. Wenn wir im Büro einen Anruf machen wollten, mussten wir auf der Straße die nächste Telefonzelle aufsuchen“, erzählt mein Vater. „Bei Minusgraden hat die Telefonkarte nicht funktioniert“, erinnert sich meine Mutter.
Als ich zur Welt kam, hatten wir längst ein Telefon im Haus. Dort, wo ich aufwuchs, deutete höchstens noch das traditionelle gemeinsame Pizzaessen mit den NachbarInnen am Tag der Deutschen Einheit darauf hin, dass sie meine Eltern ohne den Mauerfall nie kennengelernt hätten. Die Tradition entstand, weil die befreundeten Familien unserer Straße feiern wollten, dass es ihnen überhaupt möglich war, zusammen zu wohnen. Bei Rotwein und Pizza Funghi freuten sich Ossis und Wessis darüber, dass sie sich getroffen hatten. „Das war unser Ausdruck der Vereinigung“, sagt meine Mutter. Sonst wurde der Osten nie zum Thema – bis ich an die Uni kam.
Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.
Da waren plötzlich viele Westdeutsche und ich bemerkte, dass meine Kindheit stärker von der DDR geprägt war, als ich gedacht hatte. Es war für mich normal, mich vor dem Turnunterricht der Größe nach aufzustellen und auf das „Sport“ meiner Grundschullehrerin „frei“ zurückzurufen. Dieser Gruß der Arbeitersport-Bewegung aus dem 19. Jahrhundert war nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands wieder eingeführt worden. Seitdem läutete er Trainingseinheiten in der DDR ein.
Viele meiner LehrerInnen waren in der DDR zur Schule gegangen und behielten ihren davon geprägten Lehrstil bei. Mein Geschichtsunterricht bestand, was die Zeit unter der SED-Diktatur betraf, nie aus abstrakten Lehrbuchabhandlungen. Persönliche Erfahrungen meiner LehrerInnen schafften Bezüge, die meine FreundInnen aus dem Westen nicht besaßen. Erzählungen von der Fabrikarbeit oder die Geschichte eines Bekannten sorgten für Erlebnisberichte, erfüllten Akten von Opfern der Stasi mit Leben und ließen die DDR für uns plastisch werden. Darüber, dass es im Westen anders sein könnte, dachte ich damals nicht nach.
Erst jetzt, wo Bananenwitze eine Auseinandersetzung erzwingen, bemerke ich, dass selbst in der Nachwendegeneration gewisse Erfahrungen weiterleben. Das zeigt sich nicht nur innerhalb einer vermeintlich ironischen Überheblichkeit, mit der über den Osten geredet wird. Bemerkungen über Plattenbauten und rotgefärbte Damenfrisuren sorgen für Amüsement, Witze über DDR-Ferienlager und Südfrüchte erheitern den Smalltalk. Hier und da findet sich eine subtile Form unbewusster Herablassung: „In Stuttgart wäre ich nie mit Jogginghose aus dem Haus gegangen.“ „Oh wirklich?! Also hier gehört das zum guten Ton.“
Erst die Konfrontation mit dem Blick aus dem Westen bewirkt, dass das Ostdeutschsein Teil von mir wird. Ich bemerke, dass meine Erfahrungen andere sind als die meiner westdeutschen KommilitonInnen. Die äußeren Impulse –und Abwertungserfahrungen – verändern meine Identität. In meinem Freundeskreis bin ich die Einzige, für die es im Osten nichts Neues gibt. Kommentare, die die Zustände hier karikieren, würden mir schon deshalb nicht einfallen, weil ich kein Gefühl dafür besitze, was im Westen anders sein könnte.
Spott über Arme
„Waschsalons gibt es aber schon auch bei euch, oder?“, fragte ich neulich unsicher eine taz-Kollegin. Bestimmte Dinge sind für mich so selbstverständlich, dass ich erst jetzt, wo ich erlebe, dass andere sie nicht als normal ansehen, darüber nachdenke, dass sie im Westen anders funktionieren könnten. Dass es sich dabei nicht nur um eine persönliche Erfahrung, sondern um ein kollektives Phänomen handelt, bemerke ich im Gespräch mit anderen im Osten groß gewordenen. Fast alle mussten sich Bananenwitze anhören, die wenigsten hat es kalt gelassen. „Ich habe auch erst bemerkt, dass ich aus dem Westen komme, als ich hierher zog“, sagt mir ein Kommilitone.
Ich frage mich, ob es denn wirklich so schlimm ist, hier zu wohnen. Nein, versichert mir ein Freund aus Baden-Württemberg. Diese Witze seien nur Überspitzungen, die herausstellen sollen, wie gering die Unterschiede eigentlich wirklich seien. „Der einzige triftige Unterschied, der mir aufgefallen ist, sind die Mietpreise“, erklärt er. „So gesehen ist die Lebensqualität im Osten eigentlich sogar höher.“
Den Osten veräppeln, um Vorurteile zu entlarven – mir scheint das ein unglücklicher Weg zu sein. Erstaunlich ist daran, dass gerade linke, studentische Kreise, die sonst politisch hoch sensibel sind und diskriminierende Begriffe niemals verwenden würden, Ostklischees als etwas anzusehen scheinen, über das gern mal gelacht werden darf.
Da ist es zum Klassismus nicht weit, der mit Herablassung auf „die ganzen Thüringen-Assis“ und „pöbelnde Netto-Kunden“ blickt. Verpackt in Witzeleien wirken diese Bemerkungen meiner westdeutschen FreundInnen ironisch, letztlich sind die Kommentare über Menschen, die in der Platte wohnen und allenfalls an der Ostsee Urlaub machen können, aber nichts anderes als Spott über Arme.
Überspitzte Vorurteile
Natürlich gibt es zwischen Ost und West noch grundlegende Unterschiede. Der 2019 auslaufende Solidarpakt als Weiterführung von Aufbau Ost soll das Lebensniveau im Osten ja nicht ohne Grund an das des Westens anpassen. Das Merkwürdige ist der Drang, dieses zum Thema zu machen – und zwar selbst bei denjenigen, die die DDR nie erlebt haben.
Die einen erheben sich ironisch mit überspitzten Vorurteilen über den Osten, um diesen von ihrer westdeutschen Heimat abzugrenzen. Die anderen – wie ich – identifizieren sich plötzlich als Ossis, weil sie durch diese Abgrenzung überhaupt erst bemerken, dass ihre Erfahrungen andere sind. Wirklich schlimm finde ich diese Witze zwar nicht, verwundern tun sie mich aber dennoch. „Nimm das nicht so ernst“, heißt es dann. Und zur allgemeinen Belustigung antworte ich auf Sächsisch: „Tu isch doch gornisch.“ Das ist meine Immunisierungsstrategie: der Fremdzuschreibung zuvorkommen. Mich zu dem Ossi machen, der ich nie war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene