: Die Mädchen von der114 c
In sogenannten Tripperburgen wurden in der DDR Tausende Mädchen und junge Frauen eingesperrt und diszipliniert. Martina Blankenfeld war eine von ihnen. Sie kämpft für ein Gedenken
Von Sabine Seifert (Text) und Maria Sturm (Fotos)
An ihre Ankunft im Klinikum Berlin-Buch erinnert Martina Blankenfeld sich noch gut. Eine Ärztin habe hinter einem Schreibtisch gesessen und Fragen gestellt, die sie nicht verstand. Wann hattest du das letzte Mal Geschlechtsverkehr? Wie heißt dein Freund? Hast du dich schon einmal selbst befriedigt? „Ich bin aus dem Staunen gar nicht mehr rausgekommen“, sagt Martina Blankenfeld heute. Während der Aufnahmeprozedur habe sie andere Patientinnen der Station gegen die vergitterte Tür trommeln hören, dazu hätten sie gesungen: „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, wir haben Durst!“
„Ich dachte, ich sei in der Klapse gelandet“, sagt Martina Blankenfeld heute. Die „Klapse“ kannte sie, ihre Mutter war dort oft. Aber Station 114 c ist keine Psychiatrie. Sie ist ein Spezifikum der DDR, über das bis heute wenig öffentlich bekannt ist. Auf geschlossene venerologische Stationen kamen Frauen und Mädchen ab 12 Jahren, denen unterstellt wurde, sie könnten sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen haben. Venerologie nennt man die Lehre der sexuell übertragbaren Erkrankungen.
Heute weiß man: Der Verdacht war vorgeschoben. Die wenigsten Patientinnen hatten tatsächlich eine Geschlechtskrankheit. Auch Martina Blankenfeld nicht. Zwangseingewiesen wurden Frauen, die als „asozial“ galten. Die DDR nannte sie: „Herumtreiberinnen“, „Bummelantinnen“ oder „Personen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“. Auf den geschlossenen venerologischen Stationen sollten sie politisch diszipliniert werden.
Die Station 114 c im Klinikum Berlin-Buch war eine solche Station. Sie gehörte zur Venerologie, der Abteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Umgangssprachlich hießen die geschlossenen venerologischen Stationen in der DDR „Tripperburgen“. Und tatsächlich waren sie wie eine Festung, aus der es so schnell kein Entkommen gab.
Martina Blankenfeld hat einen Suizidversuch hinter sich, als sie gegen ihren Willen in dieser Festung landet. Es ist ein Apriltag im Jahr 1978, als sie beschließt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie ist 15 Jahre alt. Sie sucht die Schmerz- und Beruhigungstabletten zusammen, die in der elterlichen Wohnung in Berlin-Karlshorst schachtelweise herumliegen. Ihre Mutter, vom Krieg traumatisiert, ist psychisch krank. Martina Blankenfeld schluckt die Tabletten, geht zur Schule und kehrt um, bricht schließlich im Bad zusammen. Sie überlebt, bleibt mehrere Tage im Kinderkrankenhaus. Als es ihr besser geht, kommt sie aber nicht nach Hause. Sie wird verlegt in das Klinikum Berlin-Buch, Station 114 c. Die Fenster sind vergittert, lassen sich nicht öffnen. Die Betten sind im Boden verankert.
Bis heute gibt es kaum Zahlen dazu, wie viele Frauen in der DDR auf eine geschlossene venerologische Station eingewiesen wurden. Wissenschaftliche Schätzungen gehen von mehreren Zehntausend aus. In einigen Städten scheinen Akten ganz verschwunden zu sein oder, wenn doch vorhanden, werden sie nur zögerlich freigegeben. Vor allem aber fehlt es an Frauen, die über ihre Erfahrungen sprechen. Viele haben aus Scham geschwiegen. Anders als die Jugendwerkhöfe, die Wochenkrippen und Kinderheime der DDR sind die geschlossenen venerologischen Stationen bisher historisch wenig erforscht.
Ihr Ziel: Eine Erinnerungstafel
Martina Blankenfeld will das ändern. An einem kalten Tag im Frühjahr 2025 steht sie vor dem Haus der früheren Station 114 c. „Der Weg, die Pflastersteine, alles ist noch original wie früher“, sagt sie. Die Klinik wurde nach der Wende abgewickelt, das denkmalgeschützte Ensemble blieb erhalten und wurde zu Eigentumswohnungen umgebaut. Der Wind fegt durch die kahlen Bäume, die Sonne scheint und wärmt nicht. Nichts erinnert an das Schicksal der Frauen, die hier behandelt worden sind. Wenn es nach Martina Blankenfeld geht, soll hier bald eine Erinnerungstafel hängen. Dafür setzt sie sich ein.
Martina Blankenfeld kämpft schon lange für Gerechtigkeit für sich und die Betroffenen. Sie hat sich durch Archive gefragt, um Dokumente zu finden, die beweisen, dass es die Station 114 c wirklich gegeben hat. Sie hat ihre Vergangenheit zu ihrer Geschichte gemacht. Dieser Artikel beruht auf ihren Erzählungen und den vielen Unterlagen, die sie auf ihrem Computer gesammelt hat. Die Öffentlichkeit soll wissen, was ihr und vielen anderen widerfahren ist. Dafür hat sie im September 2024 beim Bezirk Pankow, zu dem der Ortsteil Buch heute gehört, einen Antrag eingereicht.
61 Jahre alt ist Martina Blankenfeld heute, aufgewachsen in Ost-Berlin. Groß von Statur, lange dunkle Haare, die im Ansatz von einer weißen Strähne durchzogen sind. Ihre Stimme ist kräftig und tief. Was sie sagt, unterstreicht sie mit den Händen. Sie ist stets schlagfertig, geradeaus, direkt. Die Worte purzeln nur so aus ihrem Mund, lassen manchmal Luftlöcher mit Gedankenpausen entstehen. Dann biegt sie in eine andere Richtung ab, um am Ende genau dort anzukommen, wo sie hinwollte. Martina Blankenfeld hat gelernt, sich zu schützen. Mit Ärzten, Therapeutinnen und Behörden hat sie schlechte Erfahrungen gemacht, Hierarchien bereiten ihr Unbehagen.
Von außen hat sich das Haus, in dem sich damals die Station 114 c befand und das heute die Nummer 14 trägt, kaum verändert. Nur dass es einen pastellfarbenen Anstrich bekommen hat. Hübsch sei es hier heute, sagt Blankenfeld, schön friedlich. Trotzdem muss sie erst mal eine rauchen. „Im ersten Stock war unsere Station“, sagt sie und zeigt nach oben. „Die Fenster waren von innen vergittert und hatten trübes, drahtdurchzogenes Glas.“ Konnte man lüften oder durfte man in den Hof? „Nee.“ Die Mädchen und Frauen auf der 114 c bekamen keine Beschäftigung, hatten keine Unterhaltung. Sie wurden sich selbst überlassen und wie im Asyl verwahrt.
Einmal habe sie sich einen Besen gegriffen, um damit „Bonanza“ zu spielen, erzählt Martina Blankenfeld und fällt in die Melodie der alten Westernserie ein. „Aus Langeweile hatte ich mir aus der Bettwäsche ein Kostüm gebastelt. Und dann bin ich vor lauter Übermut mit dem Besenstiel aufs Fenster zugeritten.“ Die Scheibe hatte daraufhin ein Loch und sei später ihrer Mutter in Rechnung gestellt worden. „Aber wir konnten die frische Regenluft atmen. Das tat gut!“ Auf Anfrage bekommen die Mädchen Schreibmaterial zur Verfügung gestellt, um an die Eltern zu schreiben. Martina Blankenfeld schreibt eine Postkarte an ihre Mutter und malt mit Bleistift eine schöne große Burg über der Tür des Krankenzimmers. Darüber schreibt sie: „Willkommen in der Tripperburg!“
21 Tage verbringt Martina Blankenfeld auf der Station 114 c. Tage der Ungewissheit, der Zweifel, des Ausgeliefertseins. „Warum bin ich hier? Wie geht es weiter?“ Fragen, die ihr niemand beantwortet. Die Untersuchungen finden in der Regel morgens statt. Täglich werden Abstriche gemacht, oft wird auch ein Spekulum eingeführt. Auch Allergietests auf dem Rücken gehören zur Routine. Es sind Cremes, die auf das Auslösen von Hautirritationen geprüft werden, so erinnert es Martina Blankenfeld. Heute weiß man, dass Medikamente, auch im Auftrag von Westfirmen, in DDR-Krankenhäusern getestet wurden.
In Berlin-Buch könnten auch Kosmetikprodukte für die Kosmetikabteilung der Hautklinik an den Jugendlichen getestet worden sein. Dass den Mädchen Schönheitsprodukte zur Verfügung gestellt wurden, bestätigt Blankenfeld. Die Mitpatientinnen hätten sich auf die angebotenen Schminkutensilien „gestürzt“, sagt sie. Ihre Sache sei das nicht gewesen. „Dass sie uns einerseits unterstellten, wir seien mannstoll, und uns andererseits zum Schminken aufforderten, finde ich im Nachhinein völlig absurd.“
Medikamente einzunehmen, verweigert sie. Doch den Untersuchungen auf dem gynäkologischen Stuhl kann sie sich nicht entziehen. Das ist ihr innerer Deal: Wo Widerstand zwecklos erscheint, lässt sie es „über sich ergehen“, um sich an anderer Stelle zu verweigern, nicht alles mitzumachen. Einmal wird sie von einem Arzt auf eine mögliche Schwangerschaft untersucht. Aufgrund ihrer Vorgeschichte ein völlig abwegiger Verdacht. „Ich lag auf dem Stuhl“, erinnert sie sich, „und hätte ihn am liebsten mit dem Fuß weggestoßen.“ Währenddessen habe der Arzt „einen auf Konversation gemacht“, wie es so in der Schule laufe. „Ich dachte, ich spinne! Warum sind die alle so feige, die Ärzte, die Schwestern? Aber letztlich habe ich es über mich ergehen lassen.“ Das Regime der Schwestern ist streng, der Ton befehlsmäßig, kommt aber ohne körperliche Gewalt aus.
47 Jahre später, im Februar 2025, steht Martina Blankenfeld im Flur des ersten Stocks des Museums Berlin-Pankow. Im großen Sitzungssaal tritt die Gedenktafelkommission des Bezirks zusammen. Gleich wird man sie hereinrufen, damit sie noch einmal ihren Antrag für eine Gedenktafel begründen kann.
Aufgeregt? – „Nee.“
Warum nicht? – „Na, weil es so ist.“
Martina Blankenfeld ist im Lauf der Jahre zu einer Expertin in eigener Sache geworden. Sie spricht nicht das erste Mal vor einer Kommission. Während wir das ehemalige Klinikgebäude betrachten, sagt sie: „Es macht mir nichts aus, hier zu stehen. Ich bedauere nur, dass ich nach der Wende nicht losgezogen bin und Haus 114 außen wie innen fotografiert habe.“ Die Aktenlage zu den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR ist schwierig. Noch schwieriger: der Zugang dazu. Manches ist verschwunden, Vieles liegt unter Verschluss. Zeitzeuginnen und ehemalige Mitarbeiter, die von ihren Erfahrungen berichten wollen, lassen sich nur schwer finden. Ohne dass es ein öffentliches Interesse an dem Thema gibt und wissenschaftliche Forschungsaufträge erfolgen, werden sich die Archive kaum von allein öffnen.
Nach heutigem Wissensstand hat es elf geschlossene venerologische Stationen in der ganzen DDR gegeben. Eine davon befand sich in Ostberlin, zunächst in der Nordmarkstraße (heute Fröbelstraße) im Krankenhaus Prenzlauer Berg, und als diese wegen Baufälligkeit geschlossen werden musste, zog sie 1971 nach Berlin-Buch um. Auch die zentrale Beratungs- und Behandlungsstelle für die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die alle Maßnahmen koordinieren sollte, war dort untergebracht.
Der Kampf gegen Syphilis oder Gonorrhoe, also Tripper, ist nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost und West gleichermaßen ein Thema gewesen. Isolationsstationen gab es nicht nur in der DDR. Auch die Alliierten installierten in den Westzonen Stationen und Häuser zur räumlichen Trennung der Infizierten, aber hier ging es um Heilung. In der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR entstanden nach sowjetischem Vorbild geschlossene Anstalten, die neben der medizinischen Behandlung einen erzieherischen Auftrag hatten.
Penicillin erwies sich ab Anfang der 1950er Jahre als wirksames Mittel in der Therapie von Geschlechtskrankheiten. Während die BRD ihre Stationen nach und nach schloss, beließ es die DDR bei ihrer rigiden Präventionsstrategie und Praxis. 1961 trat die Verordnung zur „Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ in Kraft. Sie knüpfte an die Gesetzgebung der Weimarer Republik und des Kaiserreichs an. Damit überführte sie ein traditionelles und patriarchalisch geprägtes Frauenbild erfolgreich in die sozialistische Arbeitsgesellschaft. Frauen galten als Gefährderinnen und potenzielle Infektionsquelle, als hätten nicht ebenso Männer Frauen anstecken können. Es hat zwar auch Stationen gegeben in der DDR, auf denen Männer behandelt wurden, aber es waren keine geschlossenen Krankenstationen.
Gab es Fälle von sexualisierter Gewalt?
„Es traf speziell Frauen und Mädchen“, erklärt Florian Steger, Professor am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Ulm. Er hat als erster Wissenschaftler zu dem Thema geforscht. Viele der Mädchen und Frauen kamen aus sozial oder familiär schwierigen Verhältnissen. „In der Praxis wird ab den 1960er Jahren aus einer medizinischen Indikation wie Gonorrhoe oder Syphilis eine soziale Indikation“, sagt der Medizinhistoriker. Faktoren wie „Arbeitsbummelei“, „Herumtreiberei“ oder „Unzuverlässigkeit“ werden zur Diagnose herangezogen, sozial abweichendes oder auffälliges Verhalten wird bestraft. Trotzdem unterzog man die Patientinnen oft brutalen gynäkologischen Untersuchungen. „Spätestens nach dem zweiten Abstrich weiß man als Arzt, dass kein Keim da ist“, sagt Florian Steger. „Es gab keinen Grund, die Mädchen und Frauen länger dazubehalten. Für mich beginnt an diesem Punkt sexualisierte Gewalt.“
Bei seinen Recherchen, begonnen mit der geschlossenen venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle, ist Steger zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht mal 30 Prozent der Patientinnen Tripper oder eine andere Geschlechtskrankheit gehabt hatten. Auch andere Quellen belegen dies. Erst kürzlich konnte Florian Steger mit seinem Kollegen Maximilian Schochow in Dresden 250 Akten des Krankenhauses Friedrichstadt aus dem Jahr 1969 auswerten – nach fast zehn Jahren Wartezeit. Die jüngste Patientin sei vier Jahre alt gewesen, berichtet Steger am Telefon; nur 22 Prozent der eingewiesenen Frauen in Dresden seien laut Akten geschlechtskrank gewesen. Im Kern bestätigen diese Recherchen Ergebnisse aus Halle, Leipzig oder Berlin-Buch – auch wenn dort bisher keine Patientenakten aufgetaucht sind.
Martina Blankenfeld hat wie viele Betroffene lange geschwiegen. An wen hätte sie sich in der DDR wenden sollen? Nach der Wiedervereinigung dauerte es noch viele Jahre, bis man begann, DDR-spezifisches Unrecht aufzuarbeiten.
Laut der Verordnung von 1961 hatten Zwangseinweisungen erst dann zu geschehen, wenn sich Erkrankte einer freiwilligen medizinischen Behandlung entzogen. Die Praxis war anders: Da reichte der Verdacht auf eine Infektion. So ein Verdacht ist schnell geäußert, schnell beschafft.
Martina Blankenfeld ahnt nichts, als ein Pkw sie an jenem Tag Ende April 1978 vor dem Gebäude der Hautklinik in Buch absetzt. Niemand habe ihr unterwegs gesagt, wohin es geht, so erinnert sie es. Niemand habe ihr die vorläufige Verfügung „zur Sicherung der weiteren Erziehung und Entwicklung der Jugendlichen Martina Blankenfeld“ vorgelesen, mit der das Jugendamt Lichtenberg für die 15-Jährige Heimerziehung anordnet. Das Schriftstück besitzt sie heute in einer Kopie.
Die Anordnung der Heimerziehung wird damit begründet, dass die Jugendliche Martina Blankenfeld ihre Umgebung durch „massive Fehlverhaltensweisen“ gefährde. Genannt werden: dass sie „die Schule bummelt“, „enge Verbindung zu einer negativen Freizeitgruppe“ und „häufig wechselnde sexuelle Kontakte“ habe, sich „oft im Arbeiterwohnheim aufhält“. Die Vorwürfe basieren auf angeblichen Beobachtungen des „Genossen ABV“, des Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei – eine Art Kontaktbereichsbeamter in der DDR –, sowie der behandelnden Ärztin der Mutter. Die Anordnung schließt: „Außerdem besteht der dringende Verdacht, dass die Mutter bei einem Weiterverbleiben der Jugendlichen im häuslichen Bereich an Leben und Gesundheit gefährdet ist.“
Das Schriftstück enthält alle Schlagworte und Argumente, die das Vorgehen der Behörden rechtfertigen sollen. „Die wechselnden sexuellen Kontakte waren reine Unterstellung“, sagt Blankenfeld. „Mich mit Jungs auszuprobieren, lag mir zu der Zeit völlig fern. Das Arbeiterwohnheim lag schlicht gegenüber unserer Wohnung, wo wir Jugendlichen draußen zwei Tische als Treff nutzen durften.“
Der Suizidversuch findet mit keinem Wort Erwähnung. „Ich wollte, dass man sich mit mir auseinandersetzt“, erinnert sich Blankenfeld. „Es gab in der DDR Hilfsangebote“, stellt sie klar. „Aber die haben mich nicht erreicht. Du kannst als Kind keinen Antrag stellen: Ich brauche Unterstützung, weil ich überfordert bin mit dem Leben.“ Ihr Sarkasmus ist immer von einer Prise Selbstironie durchzogen. Das Kind Martina ist eindeutig überfordert vom Leben und ihrer Familie. Eine psychisch labile Mutter, auf die immer wieder Rücksicht zu nehmen ist. Ein Stiefvater, der sie als Achtjährige mehrfach missbraucht. Eine Mutter, die ihr nicht glaubt (im Gegensatz zur Großmutter).
Sie sind nur zu fünft auf der geschlossenen Station, das könnte an noch nicht abgeschlossenen Umbaumaßnahmen gelegen haben. 1977, ein Jahr bevor Martina Blankenfeld ins Klinikum Buch kommt, war es zu Fluchtversuchen von fünf Mädchen, körperlichen Angriffen und Zerstörung der kargen Inneneinrichtung auf der 114 c gekommen. Zerrissenes Bettzeug, aufgebrochene Eisengitter werden berichtet. Ein Mädchen blieb nach einem Sprung aus dem Fenster querschnittsgelähmt.
Das weiß Martina Blankenfeld, weil sie im Landesarchiv Berlin auf das Protokoll einer Direktoriumssitzung des Klinikums gestoßen ist, bei der die „besonderen Vorkommnisse“ thematisiert und harte Konsequenzen diskutiert wurden. Das Ministerium für Gesundheitswesen und die Staatssicherheit waren informiert. Wir verabreden uns bei ihr zu Hause im Westen Berlins, geografisch hat die Ur-Ostberlinerin einmal komplett die Seite gewechselt. Sie trägt den Computer in die kleine Küche, ihre Dokumente sind in zahlreichen Dateien und Unterdateien auf dem Computer gespeichert. Scans von Kopien, Akten, Zeitungsartikel. Ein Schulzeugnis hat sie noch, das Schreiben des Jugendamtes, eine Postkarte einer Erzieherin aus dem Jugendwerkhof, wo sie später landete.
Sie klickt sich durch viele Dateien, bis sie den „Maßnahmeplan“ findet, der im August 1977 nach dem Aufstand der jungen Frauen erstellt wurde. Chefarzt Professor Günter Elste forderte mehr Personal und strengere Sicherheitsmaßnahmen. Die zu ihrer Zeit in der Wand befestigten Betten und Eisengitter an Tür und Fenstern führt Martina Blankenfeld darauf zurück. Dass die Zerstörungswut, Rebellion und Fluchtversuche mit der desolaten Situation der Mädchen und Frauen zu tun haben könnten, auf die Idee kam man bei Klinikleitung und Behörden nicht.
Der Klinikleiter ist für „Arbeitserziehung“
Der renommierte Dermatologe Günter Elste, der die Hautklinik von 1968 bis zu seinem Tod 1988 leitete und die DDR international bei WHO-Konferenzen vertreten durfte, charakterisiert seine Patientinnen als „asoziale Elemente, Personen mit gemindertem Bildungsgrad, teils sogar kriminellen Erfahrungen“. In einer Fachzeitschrift rät er dazu, gegenüber „notorisch uneinsichtigen Gefährdeten und Kranken‘“ mehr vom Strafgesetzbuch Gebrauch zu machen. Statt Haftstrafen empfiehlt Elste „Arbeitserziehung nicht unter der Dauer eines Jahres“.
Arbeitserziehung – das bedeutete Jugendwerkhof. Eine Spezialerfindung der DDR, in denen Jugendliche unter knastähnlichen Bedingungen körperlich hart arbeiten mussten. „Holla, die Waldfee“, kommentiert Martina Blankenfeld die Empfehlung Professor Elstes in ihrer Wohnung. „Dass Ärzte so viel Macht hatten!“ Und dass ihr Einfluss weit über das Krankenhaus hinausging, dass sie sich vom SED-Staat einspannen ließen, macht sie wütend. Es ging darum, sozial abweichendes Verhalten zu strafen, den sozialistischen Erziehungsauftrag umzusetzen und angeblich gefährdete junge Menschen in den Arbeitsprozess zu integrieren. „In Wirklichkeit brauchten sie uns als ungelernte Arbeitskräfte“, sagt Martina Blankenfeld.
Für sie ging es auf den Jugendwerkhof August Bebel in Burg nahe Magdeburg. Dort arbeitet Martina Blankenfeld zweieinhalb Jahre in der Landwirtschaft und wird mit 18 „lebensuntüchtig“, wie sie sagt, ins Leben entlassen. Ihre Ausbildung zum „Teilfacharbeiter Gärtner“, wie es im DDR-Jargon hieß, war schon damals kein ordentlicher Berufsabschluss und wurde nach der Wende nicht anerkannt. Die letzten 12 Monate verbringt Martina Blankenfeld dennoch freiwillig im Werkhof, um nicht nach Hause zurückkehren zu müssen.
„Ich habe danach lange gebraucht, um meinen Platz in der Gesellschaft zu finden“, sagt sie und spricht von Identitätskrisen im Plural. „Wie oft habe ich mich gefragt, was wäre gewesen, wenn mir das alles nicht passiert wäre. Wäre es besser gewesen?“ Als 2012 der Fonds Heimerziehung in der DDR aufgelegt wurde, begann auch Martina Blankenfeld, zu ihrer eigenen Biografie zu recherchieren.
Die Idee einer Erinnerungstafel treibt sie schon länger um. Doch erst im Herbst 2024 ist sie auch bereit, beim Bezirk Pankow den Antrag zu stellen. Persönliche Einladung, positives Feedback. Doch bis zur endgültigen Entscheidung kann es ein paar Monate dauern. Ein Fachgutachten soll erstellt werden. Stattdessen kommt im Dezember eine Einladung zu einer Ausstellung in Leipzig, der Titel: „Einweisungsgrund: Herumtreiberei. Disziplinierung in Venerologischen Stationen und Spezialheimen der DDR“. Ihr Thema! Es tut sich was. Im Begleitprogramm findet am Nikolaustag ein „Erzählcafé“ statt.
Martina Blankenfeld zögert hinzufahren. Viele Menschen strengen sie an. Die Ausstellung findet in der ehemaligen Thonbergklinik statt und ist eine Kooperation der Leipziger Initiative Riebeckstraße 63 mit der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Die Initiator*innen begrüßen die Anwesenden, etwa 15 Betroffene und Interessierte sitzen um einen langen Tisch.
Das Erzählcafé findet in unregelmäßigen Abständen statt. In Berlin gibt es so etwas nicht. Kaffee und Weihnachtsgebäck stehen auf dem Tisch. Wie so oft, wenn Betroffene mit ihrem Schicksal und den Folgen ringen, ist die Dynamik unvorhersehbar. Eine Frau bricht in Tränen aus, ihr Redefluss und ihre rechtlichen Fragen zur Rehabilitierung sprengen fast die Runde. Es geht unter anderem um die Neuregelung der Opferrente, die zum 1. Juli auf 400 Euro angehoben werden soll.
Martina Blankenfeld kommt lange nicht zu Wort. Dann stellt sie ihr Erinnerungsprojekt für Berlin vor, berichtet von ihren Bemühungen, Dokumente und Belege zu finden. Sie hat beim Bundes- und beim Landesarchiv Berlin angefragt sowie beim Helios Klinikum, dem juristischen Nachfolger des Klinikums Buch. Mehrere der Anwesenden haben wie sie das Zusammenspiel der DDR-Erziehungsinstitutionen hautnah erlebt, von der einen an die nächste weitergereicht: vom Krankenhaus ins Heim und in den Jugendwerkhof. „Ich finde, die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sollte auch für kleinere Projekte mehr Geld ausgeben“, sagt Martina Blankenfeld. „Das habe ich auch schon mal persönlich dort gesagt. Sie haben einen Auftrag.“
Immerhin: Die Wanderausstellung „Einweisungsgrund: Herumtreiberei“ wurde von der Bundesstiftung Aufarbeitung mitfinanziert. Die Ausstellung wandert nicht nur, sie soll auch wachsen. Als nächstes steht Halle (Saale) auf dem Programm, Gera, Rostock und Leipzig sind abgemacht. Auch in diesen Städten hat es geschlossene venerologische Stationen gegeben. Bei jeder Station wird eine neue Schautafel dazukommen. Und weil Martina Blankenfeld davon den Leuten vom Museum Pankow erzählt, wird „Einweisungsgrund: Herumtreiberei“ nun auch im Spätherbst in Berlin zu sehen sein.
„Das zeigt doch, dass aus so einer Gedenktafel noch mehr werden kann“, freut sich Kristin Witte vom Museum Pankow. Die Museumsmitarbeiterin ist Historikerin und hat das Fachgutachten für die entscheidende Sitzung der Gedenktafelkommission im Februar 2025 erarbeitet. „Wir waren alle sehr beeindruckt“, erinnert sie sich an Martina Blankenfelds Auftritt. „Es kommt nicht häufig vor, dass der Antrag wirklich von der Betroffenen selbst gestellt wird“, erklärt die Museumsmitarbeiterin. „Oft haben wir Gedenktafeln, die von interessierten Bürgern und Bürgerinnen initiiert werden, von Initiativen oder Vereinen. Aber sie hat es selbst erlebt.“

Ende Februar 2025 ist es so weit. Die entscheidende Sitzung findet statt. Martina Blankenfeld kommt aus dem Saal. „Das Projekt ist angenommen“, sagt sie, und ein leichtes Nachbeben liegt trotz aller Coolness in ihrer Stimme. „Ich werde bei allen Schritten in die Konzeption mit einbezogen.“
Beim Spaziergang in Berlin-Buch setzt sich Martina Blankenfeld in einen Pavillon, der auf einer Wiese steht, und schaut sich um. Ob sie sich die Gedenkstele auf dem ehemaligen Klinikgelände vorstellen kann? „Na ja“, sagt sie, „viel Publikumsverkehr ist hier nicht.“ Andererseits sei dafür auch nicht so schnell mit Schmierereien oder Beschädigung zu rechnen.
Nach ihrer Entlassung aus dem Jugendwerkhof jobbt Martina Blankenfeld, bekommt einen Sohn, stellt einen Ausreiseantrag, der nicht mehr realisiert wird, weil die Mauer fällt. Nach der Wende arbeitet sie im sozialen Bereich und finanziert sich 2012 mit einer Entschädigungssumme aus dem Fonds Heimerziehung in der DDR eine dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zur Theaterpädagogin. „Dass ich meinen alten Lebenstraum Theater verwirklicht habe, darauf bin ich stolz!“, sagt sie. Sie hat ein Theaterstück und eine szenische Lesung mit Erinnerungsprotokollen gemacht. Jetzt ist sie frühverrentet.
„Was ich nie besessen habe, war Unbefangenheit“, sagt Martina Blankenfeld. „Außer in der Familie habe ich auch in der Schule oder im Kindergarten körperliche Übergriffe erlebt.“ Der Krankenhausaufenthalt reiht sich ein in eine Kette von Gewalterfahrungen. Wie erzählt man seinen Mitmenschen, Liebhabern, einem Sohn, dass man sexualisierte Gewalt erlebt hat? „Das war immer ein Teil von mir“, sagt Martina Blankenfeld, „ich habe das nie weggesteckt oder verdrängt. Ich kannte ja den Grund, warum sich manche Dinge bei mir umständlicher äußern oder warum ich keinen geradlinigen biografischen Bewerbungsbogen ausfüllen konnte.“
Martina Blankenfeld ist Einzelgängerin, auch Einzelkämpferin. Zu ehemaligen Insassinnen der Station 114 c hat sie keinen Kontakt, es gibt es keine Vernetzung. Ein Erzählcafé in Berlin, wäre das etwas für sie? Eine Facebook-Gruppe? „Eher nicht“, sagt sie nur. Ein ordentlicher Forschungsauftrag für die Medizingeschichte wäre ihr lieber.
Mit dem Erinnerungsprojekt geht es in kleinen Schritten voran. Eine Gedenktafel kann sowohl eine Plakette als auch eine große Stele sein, zweiseitig oder zweiteilig, kann viel oder wenig Text haben, Fotos oder Audio. Nun werden noch mal die Archive angefragt – und das von offizieller Stelle, freut sich Martina Blankenfeld. Dem Bezirksamt selbst steht nur ein begrenztes Budget zur Verfügung, je nach Format und Inhalt müssen noch Fördergelder eingeworben werden. Martina Blankenfeld hat da schon einige Ideen. „Ich bin angeknipst“, sagt sie. „Man muss nur Bescheid geben.“
Sabine Seifert ist Redakteurin der taz. Sie hat sich schon häufig mit Zwangseinrichtungen für Jugendliche in Ost und West befasst.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
Quelle: Deutscher Bundestag
Quelle: Jahresbericht der SED-Opferbeauftragten der Bundesregierung 2023
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, 2023
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung
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