Die Kunst der Woche für Berlin: Tief in den Gedärmen

Henrik Olesen malt bei Buchholz sein Verdauungssystem in Öl. Und Christa Joo Hyun D’Angelo schickt im Projektraum Soma Vampirinnen los.

Sicht in die Ausstellung "Digestion" von Henrik Olesen. Im Vordergrund ist die rot lackierte, abstrakte Metallskulptur "Monument after Anthony Caro" zu sehen: Metallstreben überkreutzen sich waagerecht und senkrecht. Dahinter hängen von links nach rechts die Gemälde "Smiley", "Digestion 1" und "Digestion 2"

Henrik Olesen, „Digestion“, Ausstellungsansicht, Galerie Buchholz, Berlin 2022 Foto: Courtesy Galerie Buchholz

Das Bauchgefühl täuscht meistens nicht, im Gegensatz zum rationalen Denken, zum sogenannten Verstand. Sagt zumindest der Bauch. Die Wissenschaft ist sich da nicht so ganz einig. Bekannt ist immerhin seit einiger Zeit, dass sich ganze 100 Millionen Nervenzellen im Magen-Darm-Trakt befinden. Der Darm gilt als einziges Organ, das – obwohl mit ihm durch den Vagusnerv verbunden – unabhängig vom Gehirn agiert. Würde man das dem Darm, wie ihn Henrik Olesen sieht, zutrauen?

Vielschichtig erscheint er zweifellos, unergründlich, chaotisch, von der Leinwand sich krustig und collagenartig ins Dreidimensionale ausdehnend. Das Organ selbst weist gleichmäßige Windungen auf. Da hält sich Olesen offensichtlich mehr an seine künstlerische Inspiration – Jean Fautriers “L'Homme ouvert“ aus 1928/29 – als an die anatomischen Fakten. Sein Magen “Stomach“ (2022) hat indes sogar eine, wenn auch spärliche Beschriftung, als handle es sich um eine Abbildung aus dem Biologiebuch.

In Schichten hat Olesen seine Abbilder der Gedärme aufgetragen auf die Leinwand, Schichten aus pastos aufgetragener Ölfarbe und Pappmaché, Folien, gelähnlichen Texturen oder Klebeband mit Edding beschriftet. Sie geben die Richtung in seiner aktuellen Einzelausstellung in der Galerie Buchholz vor. “Digestion“ heißt diese entsprechend. Der Künstler schält die Organe – neben Darm und Magen sind auch Nieren und Leber porträtiert – aus ihrer körperlichen Hülle, lenkt den Blick auf das Verdauungssystem, auf das man sonst meist nur aufmerksam wird, wenn etwas darin nicht funktioniert, wenn es zwickt und zwackt oder Schlimmeres daran nagt.

Galerie Buchholz, Henrik Olesen: Digestion, Di.–Sa. 11–18 Uhr, bis 20.8.2022, Fasanenstr. 30

Soma, Christa Joo Hyun D'Angelo: Violent Desires, Mi.–Sa. 16–19 Uhr, bis 28.8.2022, Monumentenstr. 24

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Schon lange und ausgiebig hat sich Olesen mit dem Körper beschäftigt, allerdings auf andere Weise. Bislang galt sein Interesse eher dessen gesellschaftlichen Implikationen, dem homosexuellen Körper, anders marginalisierten Körpern, sozialen Beschränkungen des Körpers durch Normen und Machtstrukturen. Den Blick nach Innen, in die Eingeweide lässt sich durchaus als daran anschließendes Kapitel lesen: Olesen stellt das uns Verbindende heraus – Organe hat und braucht schließlich je­de*r –, das Faszinierende des inneren Apparatus, aber auch das Verwundbare des ganzen Systems, das uns am Leben hält.

Vampirinnen vs. soziale Strukturen

Die Körper, die Christa Joo Hyun D’Angelo in den Fokus nimmt, machen auch einiges mit. Um Misogynie, Sexismus, Rassismus, Klassizismus geht es in den multimedialen Arbeiten, die die Künstlerin derzeit im Projektraum Soma in einer unbedingt sehenswerten Einzelausstellung zeigt, die Skulpturen, Neon- und LED-Installationen sowie zwei neue Mehrkanalvideoarbeiten umfasst.

Eine Drei-Kanalvideoinstallation im abgedunkelten Raum. Rechts und links sind Weiß auf Rot zu lesen "No Happy Sad", in der Mitte ist Weiß auf Schwarz zu lesen "Time Kills"

Christa Joo Hyun D'Angelo, „Violent Desires“, Ausstellungsansicht Foto: SOMA Art Space Berlin, courtesy Christa Joo Hyun D'Angelo

“Mothernight“ stammt zwar bereits aus 2020, hat aber aufgrund der Pandemie dennoch erst jetzt seine Premiere – und zieht einen sogleich in den Bann, mit seiner rot-schwarz-weißen Farbgebung, dem Sound, den Vampirinnen, die ihn bevölkern und vor allem der Art und Weise wie Yoo Hyun D’Angelo darin ihre Kritik an patriarchalen Strukturen und kolonialen Überbleibseln in Familien wie Gesellschaften, an kaum zu überwindenden sozialen Strukturen sowie dem kollektiven Umgang mit Anderssein zum Ausdruck bringt.

Eigentlich müsste man die Arbeit mehrfach ansehen, um sie genauer zu entschlüsseln, all die Anspielungen und Verweise – und am besten hinterher gleich noch die beiden südkoreanischen Filme “The Housemaid“ aus dem Jahr 1960 von Regisseur Kim Ki-Young und “Lady Vageance“ aus 2005 von Park Chan-Wook, aus denen die Künstlerin – unter anderem – Ausschnitte als Collagenmaterial benutzt hat (zumindest ersteren hat der Streamingdienst Mubi aktuell im Programm).

Leiser, aber nicht weniger intensiv ist die jüngste Arbeit, die Christa Joo Hyun D’Angelo bei Soma präsentiert: Die 5-Kanal-Videoarbeit “A Lover’s Touch“ begleitet das fiktive Paar Dolores Moreira und Marc Eichmann bei einer Psychotherapiesitzung. Beide kommen abwechselnd zu Wort. Immer mehr kommt dabei zum Vorschein, wie sich Abhängigkeiten mannigfaltiger Art, tradierte und von Stereotypen geleitete Erwartungen in interracial Beziehungen manifestieren können, wie gegebene Machtgefälle innerhalb romantischer Partnerschaften im schlimmsten Fall in einer Spirale aus Gewalt und Scham enden. Keine leichte Kost, aber wer will schon immer nur Kunst, die so verdaulich wie Toastbrot ist?

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Redakteurin für Berlin Kultur, freie Kulturjournalistin und Autorin. Für die taz schreibt sie vor allem über zeitgenössische Kunst, Musik und Mode. Für den taz Plan beobachtet sie als Kunstkolumnistin das Geschehen in den Berliner Galerien und Projekträumen.

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