Die Geiseln der Hamas: „Ich will nur meine Familie zurück“
Unter den von der Hamas entführten Geiseln sind auch 19 Deutsche. Ihre Angehörigen hoffen auf die Bundesregierung. Ein Treffen in Berlin.
Das Leben, das auf den Bildern festgehalten ist, gibt es so heute nicht mehr. Der Kibbutz Nir Oz nahe der Grenze zum Gazastreifen war einer der ersten, die am 7. Oktober von Terroristen der radikalislamischen Hamas angegriffen wurden. Sie brannten Häuser nieder, vergewaltigten und massakrierten die Bewohner*innen – und nahmen Geiseln. Die israelischen Behörden gehen von über 240 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln aus. Unter ihnen auch das Mädchen mit Schwimmflügeln, seine Schwester und die Mutter: Aviv, Ras und Doron Katz Asher.
Seitdem wartet Dorons Schwester Lior Katz auf Schlaf. Wenige Stunden nach dem Terrorangriff erzählte ihr Schwager ihr von einem Video, auf dem zu sehen ist, wie ihre Schwester und ihre Nichten auf einem Truck von Hamas-Kämpfern in den Gazastreifen abtransportiert werden. Aviv und Ras kauern sich aneinander. Dorons Kleid ist auf Hüfthöhe blutgetränkt.
Etwas später erfährt Katz, dass ihre Mutter getötet wurde. Auch ihr Bruder wurde als Geisel genommen. Sein Handy wurde kurz nach der Entführung im Gazastreifen geortet.
„Es ist jetzt mehr als einen Monat her und wir wissen immer noch nichts“, sagt Katz in dem Berliner Hotel: „Die Zeit wird knapp.“
Keine Zeit, innezuhalten
Vor einem Tag ist sie als Teil einer sechzehnköpfigen Delegation in Berlin gelandet. Sie alle haben Familienmitglieder als Geiseln in Gaza, die neben der israelischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Insgesamt weiß die Gruppe von bislang 19 deutschen unter den Geiseln.
Ofir Weinberg lehnt sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch nach vorne: „Wir brauchen internationale Unterstützung.“ Weinberg ist 24 Jahre alt, doch sie beherrscht die Sprache der Diplomatie, als hätte sie nie etwas anderes getan: „Israel pflegt keine direkten diplomatischen Beziehungen zu Katar. Wir brauchen also die mächtigsten Länder, um Stellung zu beziehen und sich an den Verhandlungen zu beteiligen. Deshalb strecken wir die Hand nach Deutschland und den USA aus.“ Am 7. Oktober wurde ihr Cousin entführt. Seitdem widmet sie ihre Zeit nur einer Sache: die Geiseln zu befreien.
Der Terminkalender in Deutschland ist eng. Sie treffen den grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie Agnes Strack-Zimmermann, den FDP-Politiker Rainer Semet. Die Zeiträume zwischen den Treffen sind für die Presse vorgesehen. Zeit innezuhalten gibt es nicht. Wozu auch, wenn sie seit dem 7. Oktober sowieso keine Ruhe finden.
Lior Katz war an dem Tag, der ihr den Boden unter den Füßen wegriss, nicht Zuhause in ihrem Kibbutz Nir Oz. Über die Feiertage war sie mit ihren Kindern und ihrem Mann zu ihren Schwiegereltern nach Be’erot Yitzhak gefahren, einem Kibbutz im Zentrum Israels. Sie war Raketenalarm gewöhnt, so wie alle Menschen, die in der Nähe des Gazastreifens leben, und so war sie nicht besonders beunruhigt, als sie um halb sieben morgens im Zentrum Israels vom Heulen der Sirenen geweckt wurde. Auch ein Foto, das ihre Mutter ihr schickte, suggerierte: Es war alles in Ordnung. Auf dem Bild frühstücken ihre zwei kleinen Nichten im Sicherheitsraum der Wohnung, der Raketen standhält.
Immer mehr Details des Massakers werden bekannt
Doch kurze Zeit später wurde klar: Nichts war in Ordnung. Im Kommunikationskanal von Nir Oz gehen Nachrichten um, Hamas-Leute seien im Kibbutz, dringen in Häuser ein und schießen.
Über Whatsapp drängt sie ihre Schwester und die zwei Nichten, ihre Mutter und ihren Freund, im Sicherheitsraum der Wohnung zu bleiben. Die Tür zu verschließen. Nicht rauszugehen. Es kommen Nachrichten, dass die Terroristen mithilfe der Gasleitungen Häuser in Brand setzen. Schließlich dringen sie auch in das Haus der Katz ein, der Freund ihrer Mutter verlässt den Sicherheitsraum.
Er spricht ein bisschen Arabisch, will die Hamas-Kämpfer ablenken und davon abhalten, zum Rest der Familie vorzudringen. Er kommt nicht zurück. Ihre Mutter und ihre Schwester schreiben ihrer Schwester weiter, beschreiben, was sie von ihrem Versteck aus hören und sehen. Die brennenden Häuser, die Schreie, die Allahu-Akbar-Rufe. Zehn Stunden lang sind sie in Kontakt. Bis irgendwann keine Antwort mehr kommt.
Noch heute sucht Lior Katz nach Puzzlestücken, die ein ganzes Bild davon abgeben können, was ihre Familie in Nir Oz durchgemacht hat. Bergungskräfte sind auch einen Monat später noch dabei, verbrannte Tote über DNA-Tests zu identifizieren.
Doch gleichzeitig sind die Massaker vom 7. Oktober die wohl am besten dokumentierten Untaten der Menschheitsgeschichte. Videos von Überwachungskameras und Smartphones der Opfer geben Zeugnis davon ab – und dann sind da noch die Körperkameras und Mobiltelefone von getöteten Terroristen. Sie filmten alles mit, was sie taten.
Das Gefühl der Sicherheit, verloren
Die israelische Botschaft zeigt Journalist*innen in New York, London und Berlin in diesen Tagen eine Zusammenstellung davon: Hamas-Terroristen stechen einem Junge ein Auge aus und töten seinen Vater, während er zuschauen muss. Zwei andere rufen „Allahu akbar“, während sie mit einer Gartenhacke versuchen, einen anderen Mann zu enthaupten. In einem anderen Haus steckt ein Bewaffneter die Mündung seines Gewehrs in einen Raum, in dem eine Familie sitzt. Kurz darauf ist alles rot.
Je mehr über die Geschehnisse des 7. Oktobers an die Weltöffentlichkeit gelangt, desto größer ist auch der Schock. Doch es gibt auch diejenigen, die den Terrorangriff auf Israel als Ausbruch aus der Belagerung bejubeln oder die Augen verschließen vor dem, was passiert ist.
Die Welt muss wissen, was passiert ist, sagen Weinberg, Katz und die anderen in der Berliner Hotellobby. Die Sprache, die sie benutzen, erinnert an die Art und Weise, in der an den Holocaust erinnert wird – und es ist kein Zufall. „So etwas wie den 7. Oktober haben wir seit dem Holocaust nicht erlebt.“
Auch dafür sind sie hier. Um Fake News entgegenzuwirken. Um aufzuklären.
Katz hat ihr Gefühl für Sicherheit an diesem Tag verloren. Und jetzt, da sie in Berlin sitzt, am Vorabend des 9. November, dem Jahrestags der Reichspogromnacht, kommt sie nicht umhin, den Bogen zu ihrer Großmutter zu schlagen – zu dem Tag, an dem diese ihr Gefühl für Sicherheit verlor. Sie wurde in den 1920er Jahren in München geboren, in der Reichspogromnacht wurde ihr Vater deportiert. Sie floh nach Palästina.
„Ich bin froh, dass sie das nicht erleben musste“, sagt Katz. Ihre Großmutter starb im Januar. Jetzt sitzt ihre Enkelin hier und baut auf deutsche Unterstützung.
Sie bleiben diplomatisch
Schon bei Olaf Scholz’ Besuch in Israel Mitte Oktober sprach sie mit ihm. Er habe allen Familienangehörigen von Geiseln in der Runde aufmerksam zugehört. Doch Auskunft über den Stand der Verhandlungen gibt ihnen keiner. Es könnte die Verhandlungen torpedieren. Katz versteht das. Schwer erträglich findet sie es trotzdem.
Lior Katz, Angehörige von Geiseln
Ab und zu berichten Medien über mögliche Deals zum Gefangenenaustausch mit Hamas und Islamischem Dschihad, in erster Linie laufen die Verhandlungen über den Golfstaat Katar. Doch bislang, davon sind sie überzeugt, habe es kein substanzielles Angebot von der Hamas gegeben.
In Israel kommt von den Familienangehörigen der Geiseln mitunter heftige Kritik an der Regierung. Viele von ihnen fühlen sich im Stich gelassen. Doch in den meisten Fällen bleibt die Kritik verhalten.
Heftige Zerwürfnisse können sich die Angehörigen nicht erlauben, nicht in diesem Moment. Einige von ihnen fordern einen sofortigen Waffenstillstand, sie befürchten, ihre Liebsten könnten bei den Bombardierungen der israelischen Armee getötet werden. Andere drängen darauf, keine humanitäre Hilfe zuzulassen, bis die Geiseln freigelassen werden.
Die Delegation in Deutschland bleibt durchweg diplomatisch. Kritik an der israelischen Regierung üben sie hier nicht. Es könnte daran liegen, dass sie in dieser Zeit nicht schlecht über ihr Land sprechen wollen. Und vielleicht auch vor allem nicht hier, in Deutschland. Nur zu einem Satz lässt sich Ofir Weinberg, die 24-Jährige, die so früh die Regeln der Diplomatie erlernt hat, hinreißen: „Wenn all das vorbei ist, dann werden wir uns alle hinsetzen und die Rechnung machen.“
Sie kann sich nicht erlauben, zusammenzubrechen
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Ich will nur meine Familie zurück“, sagt Lior Katz. Wenn sie die Augen schließt, erzählt sie, dann fangen die Fragen an: Ob sie frieren, ob sie Hunger oder Durst haben? Ob die kleine Aviv ihren Schnuller hat? Und auch die: Ob sie leben?
Die Delegation muss zum nächsten Treffen. Sie greifen nach den Fotos ihrer Angehörigen, die über den Tisch verstreut sind.
„Uns läuft die Zeit ab“, sagt Katz noch einmal. Dann lächelt sie zum Abschied. Es ist das Lächeln einer, die weitermachen muss, bis ihre Mission erfüllt ist. Erst dann kann sie es sich erlauben zusammenzubrechen.
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