Die Deutschen und ihre Vergangenheit: Geschichtskuscheln
Das Befassen mit der eigenen Vergangenheit ist deutscher Volkssport. Aber nicht, um aus ihr zu lernen, sondern, um sich hinter ihr zu schützen.
D ie Deutschen sind ein Volk der Historiker. Sie sind auch vieles andere, Meister der schlechten Laune, selbstgefällige Rechthaber, Hausmeister ohne Sinn für Stil, Geschmack oder Timing. Im Wesen der Geschichte aber kommen sie ganz zu sich, hier finden sie ihr Wärmekissen, sei es in der eigenen Schuld oder in der Weltabgewandtheit, die immer dann zum Problem wird, wenn es darum geht, die eigene Provinzialität aufzugeben.
Sie benutzen die Geschichte also in doppelter Hinsicht: Zum Schutz vor sich selbst und zum Schutz vor der Welt und ihren Widersprüchen. Geschichte, das hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, wird damit zu einem Lineal, mit dem sich moralische Verwerfungen sehr gut glätten lassen. Im Feuerschein der eigenen Verbrechen bleibt auf mirakulöse Weise vor allem das eigene gute Gewissen unangetastet.
In stilleren Zeiten fiel das nicht zu sehr auf, da war der 9. November ein verregnetes Ritual, bei dem sich kurz alle einig sein konnten, dass der deutsche Judenmord eine schlimme Sache war – bevor am 11. November der Karneval begann, die fünfte Jahreszeit, wie sie es nennen, das banale Bacchanal eines leutseligen Völkchens, das nicht mal feiern kann, ohne Orden zu verleihen.
Was ist das also für eine Lücke, in die man stößt, in die man fällt, wenn man sich die Deutschen und ihren Umgang mit der Geschichte näher anschaut? Wie schaffen sie es immer wieder, mit großer Bravour über die Historie zu sprechen und dabei so wenig zu sagen? Und warum bleibt die Geschichte schön an ihrem Platz, in der Vitrine der Vergangenheit, während draußen die Welt zerfällt?
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Jenseits der Ratlosigkeit auf den Aufstieg der AfD reagieren
Wacheren Zeitgenossen wie etwa dem Aktionskünstler Philipp Ruch lassen diese deutschen Widersprüche keine Ruhe: Er gründete gerade einen „Rat der Geschichte“, um mit historischer Weitsicht politische Voraussicht zu betreiben – sehr konkret geht es ihm darum, herauszufinden, wie das, was wir über den Aufstieg Hitlers zur Macht wissen, der heutigen Politik helfen kann, jenseits der Ratlosigkeit und der Apathie auf den Aufstieg der AfD zu reagieren.
Im Gorki-Theater versammelte sich am vergangenen Wochenende dieser „Rat der Geschichte“, um darüber zu diskutieren, wie es der US-amerikanische Historiker Daniel Ziblatt ausdrückte, warum Demokratien nicht durch äußere Bedrohung scheitern, sondern durch inneren Zerfall, eher durch das Verhalten der Demokraten als der Antidemokraten – etwa das Achselzucken, mit dem gerade die Berliner SPD gegen ein AfD-Verbotsverfahren stimmte.
Kann man also aus der Geschichte lernen? Überraschend oft hört man nun hier und da: Nein, nein, so einfach ist es nun auch nicht. Das Mantra lautet: Geschichte wiederholt sich nicht. Offen bleibt jedoch, ob sie sich einfach anders anzieht, wenn es draußen Winter ist oder Sommer, oder 1933 oder 2026 und man nicht doch etwas erfahren könnte, über die Möglichkeiten, sich gegen Faschisten zu wehren, wenn man die Geschichte auf Gegenwart und Zukunft anwendet.
Das ist die Idee von Thomas Weber, einem deutschen Historiker, der in Großbritannien lehrt. Das lässt ihn schon mal anders auf die Geschichte schauen – es sind besonders oft Akademiker*innen, die im Ausland arbeiten und die einen klareren Blick auf die deutschen Verhältnisse haben. Was nicht überraschend ist, weil das Wesen des Provinzialismus ist nun mal die Provinzialität.
Das Ende von Politik
Weber, der mit Ruch zusammen gerade das für die Erkundung der gegenwärtigen historiografischen und politischen Widersprüche wichtige Buch „Wenn das Gestern anklopft“ herausgegeben hat, will eine „angewandte Geschichtswissenschaft“ etablieren, so wie es sie vereinzelt schon in den USA etwa gibt, „Applied History“ heißt das dort. Das Ziel: Wissen wird zum Werkzeug, zur „Waffe“, wie es Ruch nennt, für die Demokratie.
Ganz anders und seltsam ahistorisch hat gerade ein anderer Historiker gezeigt, wie Geschichte nicht für die Gegenwart zu erschließen ist. Karl Schlögel führte ausgerechnet in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor, wie man einerseits mit vielen Worten wenig sagt und andererseits Geschichte durch mythologisches Denken der Auswegs- und Alternativlosigkeit ersetzt. Oder, in seinen Worten: „Dann aber kam Russlands Besetzung der Krim.“
Für die Zeit nach 1989, die für das Verständnis des Konflikts in der Ukraine und der europäischen Gegenwart so entscheidenden neunziger Jahre, hat Schlögel einen halben Absatz und einige abfällige Bemerkungen übrig – wer sich mit dem verpassten Frieden nach dem Ende des Kalten Krieges beschäftigt, versteht nicht, so Schlögel, dass Putin eine „Gestalt des Bösen“ ist und es so kommen musste, wie es kam. Schlögel benennt damit sehr direkt das Ende von Politik, er diskreditiert auch seine eigene Zunft.
Schlögels manichäische Intonation hat etwas Anti-Intellektuelles und passt damit in die Zeit. Seine Rhetorik hat nichts mit der Frage zu tun, wie man zur Kriegsschuld Putins steht – die etwa auch jemand wie die US-Historikerin Mary Sarotte nicht in Frage stellt, die dennoch in ihrem Buch „Nicht einen Schritt weiter nach Osten“ mit großer Genauigkeit die Widersprüche der westlichen Russlandpolitik analysiert.
Schlögel führt damit die doppelte Gestalt der Geschichte vor: Vergangenheit wird benannt, um Gegenwart zu legitimieren. Das hat wenig von Wissenschaft und mehr von Ideologie. Es musste so kommen, Nachdenken ist für Nörgler, Zweifel zwecklos. Schlögel liefert damit eher ein Narrativ als eine Erklärung – und führt damit letztlich ab absurdum, was er doch vorgibt zu verteidigen: die europäischen Werte. Geschichtsschreibung aber, so verstanden, ist das Gegenteil von Aufklärung.
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