Die Biotope der Verschwörung: Der grassierende Aberglaube
Bei der Analyse von Verschwörungstheorien kann ein Text von Baruch de Spinoza helfen, der im 17. Jahrhundert über den Aberglauben schrieb.
Es ist keine geringe Paradoxie, dass einer der aussagekräftigsten Texte zu einem heutigen Phänomen aus dem 17. Jahrhundert stammt. Das Phänomen ist der grassierende Aberglaube in Kombination mit Verschwörungstheorien aller Art. Braucht es da noch einen Hinweis, wo sie uns doch alle so geläufig sind? Ob Chemtrails, 5G-Masten, QAnons Pizzeria oder Zwangsimpfungen.
Es sind dies unterschiedliche Ausformungen desselben Sachverhalts: einem Überhang des Glaubens über Vernunft und Realität. Dachte man, Aberglauben sei längst überwunden oder aber in die letzten Kammern der Privatheit zurückgedrängt – so erfreut sich solcher Glaube wider besseres Wissens heute einer Wiederauferstehung, einer pandemischen Verbreitung.
Der erhellende Text aber stammt von Baruch de Spinoza, der die politisch unruhigen Niederlanden seiner Zeit mit einer Skizze des Aberglaubens konfrontiert hat. So setzt sie ein: „Wenn die Menschen alle ihre Angelegenheiten nach einem bestimmten Plan regeln könnten oder wenn das Glück ihnen jederzeit günstig wäre, stünden sie nie im Banne des Aberglaubens.“
Wem alles glückt, der bedarf keines Aberglaubens. Erst wenn etwas im Leben misslingt, erst in schwierigen Zeiten, in problematischen Situationen sind Menschen geneigt, „alles Beliebige zu glauben“. Im Unglück also wird man zugänglich für Aberglauben. Vor allem aber durch Angst. Denn „was den Aberglauben hervorbringt, nährt und erhält, ist die Furcht“. Kein Wunder, dass die Zeit einer langen, anhaltenden Pandemie sich als fruchtbarer Schoß solchen Glaubens erweist.
In Zeiten der Gefahr
Aberglaube ist also eine verfestigte Gemütsbewegung, ein verhärteter, verstetigter Affekt. Und zwar der „allerwirksamste“ Affekt, wie Spinoza meint. Denn nichts hat uns so sehr im Griff wie die Angst.
Es mag zwar mehr oder weniger Geneigte geben, aber dem Aberglauben kann jeder verfallen. In Zeiten der Gefahr. Dann, wenn einem die Vernunft „keinen sicheren Weg weisen kann“. In solchen Momenten beginnt man, die Vernunft „blind“ und die menschliche Weisheit „eitel“ zu nennen. Dies ist keine Spezialität des 17. Jahrhunderts. Denn wenn man der Vernunft oder der Wissenschaft nicht vertraut – oder wenn man ihr keine Lösungen zutraut –, dann nimmt man Zuflucht zu Fantasien. Und genau da findet eine interessante Veränderung statt.
Die Fantasien verwandeln, sie verkehren sich. Sie sind nicht mehr nur Antworten auf Fragen und Probleme. Sie werden vielmehr zum Ausgangspunkt, von dem aus man die Welt betrachtet und beurteilt. Die Fantasien werden zu Kategorien des Weltzugangs. Die Abergläubigen deuten die Welt, so Spinoza, „ganz als ob sie ihren eigenen Wahn teilen“. Aberglaube ist eine eigene Hermeneutik, eine Auslegung, eine Lesart der Welt im Sinne dieses Glaubens.
Die Welt ist voller Zeichen
Man sucht den eigenen Wahn überall in der Welt. Und wie solch eine Suche ist – man findet ihn auch. Die Welt ist dann voller Spuren, voller Zeichen, voller Bestätigungen der eigenen Fantasien. Die Welt antwortet. Eine Resonanz eigener Art.
Daher rührt auch die Schwierigkeit, einen Ausweg zu finden. In Pandemiezeiten wird dies zu einem akuten Problem. Vor allem wenn der Aberglaube weite Kreise erfasst. Der Kommunikationsforscher Phil Howard meinte kürzlich, wir brauchen „eine Herdenimmunität gegen Desinformation“. Aber wie soll das gehen?
Dem Aberglauben ist rational nicht beizukommen – eben weil er eine Form von Affekt ist. Deshalb muss man die Frage von daher stellen – vom Affekt aus. Und da zeigt sich (wie gesagt): Menschen sind dann nicht anfällig für Aberglauben, wenn ihre Pläne aufgehen oder wenn sie Glück haben. Denn dann sind sie, so Spinoza, „prahlerisch und aufgeblasen“ und „nur allzu zuversichtlich“.
Was uns also vom Aberglauben trennt, ist nicht einfach Vernunft – sondern Selbstbewusstsein und Erfolg. Nur wenn man den nicht hat, nur wenn man verunsichert oder ängstlich ist, gerät man in den Bann des Aberglaubens. Kurzum – der Aberglaube erweist sich als passgenau für unsere Gesellschaft: Er ist die Kehrseite einer Gesellschaftsordnung, die Sieger fordert.
Leser*innenkommentare
85198 (Profil gelöscht)
Gast
"Wären die Frauen von Natur den Männern gleichwertig (...), so müsste es doch unter so vielen und so verschiedenen Völkern einige geben, wo beide Geschlechter nebeneinander, und andere wo Frauen Männer regierten. Da dies aber nirgends der Fall, so darf man entschieden behaupten, dass Frauen nicht das gleiche Recht haben wie Männer."
Baruch de Spinoza
Was muss der Mann für eine Furcht vor Frauen gehabt haben, um so abergläubisch zu sein.
4813 (Profil gelöscht)
Gast
Ach ja, die Furcht nährt den Aberglauben.
Vielleicht ist auch die Furcht nur Folge des Mangels an Möglichkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, was darin mündet an einfache Zusammenhängen, die Verbrecher konstruieren, zu glauben.
Einfach gesagt - viele Leute sind zu doof.
Das ist gut für Diktatoren, schlecht für die Demokratie
Ringelnatz1
Schon bin ich wieder auf den Dornburger Schlössern im geistigen Auge:
Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; deswegen schadet's dem Dichter nicht, abergläubisch zu sein.
Johann Wolfgang von Goethe
Und da icke ja mal inne Gleimstraße gewohnt habe, nehmt dies Literaturinteressierte:
Unglaube, du bist so sehr ein Ungeheuer,
Als Aberglaube, du!
Für deinen Aftergott gehst du mit Schwert und Feuer
Auf deine Feinde zu.
Streckst sie zu Boden, trinkst ihr Blut aus ihrem Schädel,
Wirst Märtyrer mit Prunk,
Bist grausam, dumm und stolz, dünkst tapfer dich und edel
Bei deinem Schädeltrunk!
Unglaube streitet nur mit Worten und wird müde;
Dir, Ungeheuer, brennt
Die ganze Seele! Dir ist nirgend Ruh und Friede,
Krieg ist dein Element!
Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Kommt dem(Alt) Berliner etwas entgegen.
Lowandorder
Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - legt nach -
“Was uns also vom Aberglauben trennt, ist nicht einfach Vernunft – sondern Selbstbewusstsein und Erfolg"
Jaha. Mensch muss halt an sich selbst glauben. Das erste Gebot jeder der (Motor)Radgeber-Bibel. Oder mal (auf) ein Taxi warten - und glauben, dass es kommt: www.youtube.com/watch?v=rquz-j09I2c
Lowandorder
Nunja - Wehrteste.
Schonn. Aber => Sie übersehen das innewohnende Paradoxon.
Sicher:“ Denn wenn man der Vernunft oder der Wissenschaft nicht vertraut – oder wenn man ihr keine Lösungen zutraut –, dann nimmt man Zuflucht zu Fantasien. Und genau da findet eine interessante Veränderung statt.“
Genauso aber gilt der schöne Witz.
Trifft der alts Physikprof seinen abgebrochenen Studi. “So! Literatur - Dichter sanns g‘worde. Grad den Literaturpreis in Winsen an der Knatter gewonnen! Glückwunsch. … …
Ja stimmt schonn. Für Physik hattense zu wenig Phantasie!“
kurz - Phantasie - die stärkste Kraft des Menschen. Fürwahr.
unterm—— Sorry —
Mit Spinoza - mit Verlaub - machens sich schlicht zu einfach - & dehre.
Lowandorder
@Lowandorder Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - klug dran -
“ Wissenschaft entstand ja erst dadurch, dass Menschen versuchten, das zu "beweisen", was sie glaubten.“
kurz - Womit wir Zackflex beim ollen Pirsig & den indianischen Quaquaukwas
unterm——-
Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten
Buch von Robert M. Pirsig
de.wikipedia.org/w...Motorrad_zu_warten
& wer ne olle Kiffnase dazu hören will
taz.de/Motorradwar...roeckers/!1617054/
& Willi Winkler (Harry Rowohlt - psst!;))
www.sueddeutsche.d...k-wonder-1.3478089
Helvet
Steckt eine Verschwörung dahinter oder hab ich es überlesen, wenn man den Titel des Textes nicht erfährt?
PauKr
Wie heißt denn der Text von Spinoza und ist der gegebenenfalls online verfügbar?
tfh
@PauKr ein suchmaschinchen warf mir recht passend folgenden titel aus:
Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung, gedruckt 1670
Lowandorder
@tfh Hier mal einsteigen - Spinozas Ethik
www.zeno.org/Philo...a,+Baruch+de/Ethik