Die Berliner SPD und das Volksbegehren: Kampf gegen die Mieterschaft
In Berlin herrscht seit Ende des Weltkriegs Wohnungsnot. Vor allem die SPD ist dafür verantwortlich. Warum Vergesellschaftung sinnvoll ist.
Die Welt ist ungerecht. Monat für Monat wechseln in Berlin rund 1,3 Milliarden Euro ihre Besitzer, für deren Überweisungen das Stichwort „Miete“ lautet. 83 Prozent der Bevölkerung dieser Stadt bezahlen brav dafür, dass sie einen weiteren Monat in Räumen leben dürfen, die nicht ihnen gehören.
Im Jahr summiert sich dieser Vermögenstransfer von Mietern zu Grundeigentümern auf gut 16 Milliarden Euro – eine stetige Enteignung, die beständig größere Ausmaße annimmt. Laut dem Mikrozensus 2018 müssen Mieter in Berlin im Schnitt 28 Prozent ihrer Haushaltsnettoeinkommen für ihre Bruttokaltmiete aufbringen, 1975 waren es lediglich 13 Prozent.
Auf der anderen Seite sind die meisten Immobilieneigentümer in den vergangenen Jahren der Wohnungsknappheit und Mietenexplosion in Berlin einem sanguinischen Spekulationsrausch erlegen. Sogenannte Investoren aus aller Welt haben zuletzt Fantasiepreise für Berliner Liegenschaften bezahlt, zu deren Finanzierung sie die Mieter nun nach bestem Vermögen auszupressen versuchen.
Von einer kurzen Phase in den 1990er Jahren abgesehen, herrschte in Berlin seit dem Zweiten Weltkrieg Wohnungsnot: In Ostberlin fehlten beständig Wohnungen, im Westteil stets günstige Mietwohnungen. Die rasante Zuwanderung der vergangenen Jahre und die unaufhaltsame Individualisierung – sprich: Versingelung – haben nun dazu geführt, dass die Wohnungsnot nicht gekannte Ausmaße angenommen hat. Und die Mieten explodiert sind.
Allen voran die SPD
Es gibt Verantwortliche dafür, dass es so weit kommen konnte. Allen voran sind das Protagonisten einer Partei, die das schöne Wort „sozial“ in ihrem Namen führt: der SPD. Die Genossen und Genossinnen sitzen seit 1989 in jeder Berliner Landesregierung; seit 1996 im Abgeordnetenhaus dabei ist zum Beispiel der Noch-Regierende Bürgermeister Michael Müller. Nach dem Beitritt der DDR gab es in Berlin rund 600.000 staatliche Wohnungen. Mit wechselnden Koalitionspartnern schmolz die SPD diesen Bestand bis auf 270.000 Einheiten ab.
Diesem systematischen Verrat an der Mieterschaft tritt seit dreieinhalb Jahren die Bürgerinitiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen entgegen. Das bunte Mieterbündnis versucht einer besonders widerwärtigen Erscheinung des Berliner Immobilienbooms den Garaus zu bereiten: den größeren privaten, besonders den börsennotierten Wohnungsgesellschaften, die für den shareholder value ihrer Aktionäre ihre Mieter melken. Unter ihnen ist die Deutsche Wohnen mit gut 110.000 Wohnungen in der Stadt die größte.
Das Unternehmen nahm im Jahr 2020 in Berlin mehr als eine halbe Milliarde Euro an Mieten ein; ihr Gewinn lag vor allem dank der Wertsteigerung ihrer Wohnungsbestände bei mehr als anderthalb Milliarden Euro. Die Bezüge des Vorstandsvorsitzenden Michael Zahn beliefen sich – die Welt ist ungerecht – im vergangenen Jahr auf 3,1 Millionen Euro. Das ist das 75-Fache des Berliner Durchschnittseinkommens.
Es lohnt sich, kurz in Erinnerung zu rufen, wie es so weit kommen konnte, wie die Deutsche Wohnen in Berlin so groß werden konnte: Ende Mai 2004 stimmte der damalige SPD-PDS-Senat einer Vorlage von Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) zu, nach der das Land Berlin die Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft (GSW) mit ihren 65.700 Wohn- und Gewerbeeinheiten für 405 Millionen Euro an mehrere US-Firmen verkaufte.
Heute mehr als fünfmal so teuer
Obwohl die Spekulanten auch 1,56 Milliarden Euro Schulden der städtischen Gesellschaft übernahmen, waren die Immobilien absurd billig. Für gut 30.000 Euro verscherbelte der rot-rote Senat eine durchschnittliche Zwei-Zimmer-Wohnung, die heute mit rund 165.000 Euro mehr als fünfmal so teuer ist. Die Käufer, ein Konsortium von US-Heuschrecken, brachten die GSW an die Börse. 2013 kaufte die ursprünglich von der Deutschen Bank gegründete Deutsche Wohnen fast alle ihre Aktien.
Für die an Untreue grenzende Privatisierung der GSW votierten unter anderen der Sozialdemokrat Michael Müller, damals Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus. Die Linke, die dem Deal zähneknirschend ebenfalls zustimmte, um die Koalition mit der SPD nicht platzen zu lassen, hat inzwischen ihren Fehler erkannt und übt tätige Reue, indem sie das Volksbegehren unterstützt.
Michael Müller führt hingegen seinen Kampf gegen die Berliner Mieterschaft weiter. Es reicht ihm offensichtlich nicht, Zehntausende GSW-Mieter Finanzinvestoren zur Bereicherung vorgeworfen zu haben. Er will auch dafür sorgen, dass diese der Deutschen Wohnen dauerhaft ausgeliefert bleiben. Ekelhaft anzusehen.
Die SPD hat seit hoffnungsvollen Überlegungen von Hans-Jochen Vogel als Münchner Oberbürgermeister in den 1970er Jahren keine Konzepte einer sozialen Wohnungspolitik entwickelt und umgesetzt, die diesen Namen verdienen würden. Davon ungerührt möchte die SPD in der Mieterstadt Berlin am 26. September wieder zur stärksten Partei gewählt und als Dauerregierungspartei bestätigt werden.
Deutlich wirtschaftsfreundlicher Kurs
Ihre Spitzenkandidatin, die ehemals promovierte Politologin Franziska Giffey, will einen deutlich wirtschaftsfreundlicheren Kurs als Müller einschlagen und – wie jüngste Aussagen Giffeys vermuten lassen – zusammen mit der CDU regieren. Das Volksbegehren lehnt die derzeitige Bundesfamilienministerin mit dem absurden Argument ab, dass mit ihm keine neuen Wohnungen geschafft würden – was nie jemand behauptet hat.
Doch die rund 175.000 gültigen Unterschriften, die bis zum 25. Juni für einen Volksentscheid gesammelt werden müssen, werden ohne große Mühe zusammenkommen. Inzwischen sind 1.700 Aktivistinnen und Aktivisten in der Kampagne organisiert. Zum Referendum wird es dann am 26. September zusammen mit der Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl kommen.
Dann eine Mehrheit der Stimmen zu erreichen wird ein harter Kampf. Die Grundeigentümer und ihre politischen Vertreter von FDP, CDU und SPD, verstärkt durch ihre Medienpaladine von Springer über den Tagesspiegel bis hin zum RBB, werden eine Propagandalawine lostreten. Sie werden insinuieren, dass die Enteignung der Deutschen Wohnen und anderer Privat-Immobilienkonzerne nur der erste Schritt sein würde, eine Art Vorhof zur Hölle, in der jeder glückliche Reihenhausbesitzer um seinen Lebenstraum zittern müsste. Die DDR wird als Schreckensbild nicht ausreichen, wie wäre es mit Nordkorea?
Es gibt gute Gründe, menschenwürdiges Wohnen als Teil der Daseinsfürsorge zu begreifen und zu behandeln, die der tendenziell asozialen Begierde, sich zu bereichern, entzogen werden sollte. 1981 gelang es Tausenden von jungen Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern in Westberlin, nicht nur das Ende der SPD-Kahlschlagsanierung zu erzwingen, sondern auch ein paar Dutzend Häuser dem Zyklus der Spekulation zu entreißen und in das Eigentum von Genossenschaften oder Bewohnervereinen zu überführen. In diesen Häuser beträgt die Miete heute weniger als 5 Euro pro Quadratmeter im Monat.
Berlin eine Mieterstadt wie beispielsweise Wien?
Aber die menschlichen Kosten des „Häuserkampfs“ waren hoch. Der 19-jährige Besetzer Klaus-Jürgen Rattey kam 1981 bei einem Polizeieinsatz zu Tode; viele wurden bei Straßenschlachten schwer verletzt, andere landeten im Knast. Die Ostberliner Hausbesetzer des Jahres 1990 wiederum konnten bestenfalls Mietverträge mit überschaubarer Laufzeit erstreiten.
Im Vergleich zu diesen Kämpfen lässt sich im September beim Referendum mit einem kleinen Kreuz auf einem Stimmzettel wesentlich einfacher wesentlich mehr erreichen.
Es wird interessant sein zu sehen, ob die Berliner Mieterinnen und Mieter, die mehr als vier Fünftel der Bevölkerung ausmachen, sich dahingehend manipulieren lassen, bei dem Referendum gegen ihre eigenen Interessen zu stimmen. Oder ob sie dafür votieren, aus Berlin eine Mieterstadt wie beispielsweise Wien zu machen.
Viele Grüne, Linke, die großen Gewerkschaften, Mieterorganisationen sowieso, unterstützen den Volksentscheid. Sein Ausgang wird die Politik und Stimmung in der Stadt für die nächsten Jahre wesentlich bestimmen. Das Ergebnis wird wohl knapp werden, aber – nicht zu vergessen – beim Referendum zum Tempelhofer Feld hat es auch geklappt. Und das war ziemlich gut so.
Korrektur: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, die spätere Bausenatorin Katrin Lompscher hätte 2004 im Abgeordnetenhaus für den Verkauf der GSW gestimmt. Lompscher war damals aber Stadträtin in Lichtenberg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“