: Deutschland muss bald Strom importieren
2020 hat sich der Exportüberschuss halbiert. Und 2023 droht Deutschland gar der Wendepunkt
Von Bernward Janzing
Deutschlands Stromexport ist im Jahr 2020 eingebrochen. Mit rund 16 Terawattstunden (TWh) lag der Überschuss nach einer ersten Schätzung der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen nur noch halb so hoch wie 2019. In den Jahren 2015 bis 2018 hatte Deutschlands Exportüberschuss sogar bei jeweils rund 50 TWh gelegen.
Die Gründe für den Rückgang sind vielfältig. Am wichtigsten ist wohl der im europäischen Emissionshandel gestiegene CO2-Preis. So rührten die großen Exportmengen Deutschlands lange daher, dass die Niederlande Strom kauften, weil die hiesigen Kohlekraftwerke billigere Energie lieferten. Das hat sich geändert, weil der CO2-Preis von 6 Euro im Jahresmittel 2017 auf 24 Euro 2020 anstieg. Nachdem 2018 noch rund 20 TWh aus Deutschland in die Niederlande flossen, wird 2020 Deutschland aus den Niederlanden sogar im Saldo Strom importieren.
Es ist absehbar, dass der deutsche Stromexport durch den Kohle- und Atomausstieg weiter zurückgehen wird. Allein die Kohlekraftwerke, die 2021 abgeschaltet werden sollen, erzeugen etwa 10 TWh. Da Ende 2021 auch die Atomkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C abgeschaltet werden, könnte Deutschland bereits 2022 erstmals seit 2002 wieder zum Nettoimporteur werden.
Bislang wurde der wegfallende Atomstrom durch die Zunahme des Stroms aus erneuerbaren Energien aufgefangen. Doch wird das in den kommenden Jahren wohl nicht mehr gelingen. Spätestens 2023, wenn auch die letzten drei Atomreaktoren abgeschaltet sind, dürfte daher die deutsche Strombilanz deutlich ins Negative kippen. Entscheidend für die Bilanz der folgenden Jahre wird auch sein, wie sich der Verbrauch in Deutschland entwickelt; die Szenarien sind sehr unterschiedlich. Die Bundesregierung legt ihrem Klimaschutzprogramm für 2030 einen Bruttostromverbrauch von weitgehend unverändert 580 TWh zugrunde. Die Denkfabrik Agora Energiewende rechnet für 2030 mit 643 TWh und setzt für 2050 sogar 962 TWh an. Der Bundesverband Erneuerbare Energie rechnet schon für 2030 mit 740 TWh. Die Botschaft des Verbandes hinter dieser Prognose: Es brauche „einen deutlichen Ausbau der erneuerbaren Energien, um eine Ökostromlücke zu vermeiden“.
Aber mehr Ökostrom alleine wird für die Netzstabilität wohl nicht reichen. Im Zuge des Kohleausstiegs wird sich auch die Frage stellen, ob die Versorgung zu jedem Zeitpunkt – etwa während der viel zitierten Dunkelflaute ohne Wind und Sonne – weiterhin gesichert ist. So prüfen die Übertragungsnetzbetreiber, welche der elf zur Stilllegung im Jahr 2021 ausersehenen Kohlekraftwerke systemrelevant sind. Diese werden dann als Netzreserve zwangsweise betriebsbereit gehalten. So dürfte die Physik des Stromnetzes der Politik beim Kohleausstieg wohl noch an manchen Stellen dazwischenfunken.
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