Deutschland lässt Afghanen im Stich: Mehr Hilfe für Ortskräfte gefordert

In Afghanistan sterben immer mehr Menschen. Po­li­ti­ke­r:in­nen beklagen, für die gefährdeten Helfer der deutschen Mission werde nicht genug getan.

Eine kaputte Uhr und Einschusslöcher in einer Wand

Die Zahl der Anschläge und Verletzten erreicht seit Mai einen Höchststand Foto: Mohammad Ismail/reuters

BERLIN taz/dpa | Obwohl sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter zuspitzt, unternimmt die Bundesregierung nur wenig für ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr. Am Montag verkündete das Auswärtige Amt, dass 2.400 Visa für Ortskräfte und deren engste Familienangehörige ausgestellt worden seien. Po­li­ti­ke­r:in­nen von SPD und Linkspartei forderten jedoch, mehr zu tun.

„Das Menschenbild von Undankbarkeit und Gleichgültigkeit, das da zum Ausdruck kommt, gefällt mir ganz und gar nicht“, sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD), der auch Sprecher der SPD-Innenminister ist. Mehr Ortskräfte müssten nach Deutschland geholt werden.

Auch Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) forderte die Bundesregierung auf, den Weg für gefährdete Ortskräfte nach Deutschland zu erleichtern. Es sei wichtig, dass die Bundesregierung vor Ort dafür sorge, „dass die Menschen in Afghanistan ihre Unterstützung, ihr Flugticket, ihre Beratung, ihr Visum erhalten und dann sehr schnell nach Deutschland kommen können“.

Schon vergangene Woche kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel verstärkte Hilfe an. „Ich setze mich sehr dafür ein, dass wir pragmatische Lösungen finden“, sagte sie. Flugreisen dürften nicht an der Finanzierung scheitern. Und auch über Charterflüge müsse man nachdenken. Was aus dieser Ankündigung folgt, ist allerdings noch offen.

Immer mehr tote Zivilisten

Neben der fehlenden Unterstützung für Flugreisen kritisieren Be­ob­ach­te­r:in­nen seit Wochen, dass der Visumsprozess für Ortskräfte zu schleppend laufe. Außerdem fielen aufgrund restriktiver Regelungen viele durch das Raster.

So könnten etwa Afghan:innen, die nicht direkt, sondern über Unternehmen bei der Bundeswehr angestellt waren, nicht nach Deutschland kommen. Ähnlich ergeht es offenbar auch Ortskräften der Entwicklungs­zusammenarbeit. Mit der sich zuspitzenden Sicherheitslage werden diese Probleme dringlicher.

Einem am Montag veröffentlichten UN-Bericht zufolge hat die Zahl ziviler Opfer seit Abzugsbeginn der Nato-Truppen aus Afghanistan einen neuen Höchststand erreicht. Allein im Mai und Juni seien 2.392 Zivilisten verwundet oder getötet worden – so viele wie noch nie seit Beginn der UN-Aufzeichnungen 2009.

Der Abzug läuft seit dem 1. Mai. Die letzten Bundeswehrsoldaten sind schon seit Ende Juni wieder zu Hause. Parallel zum Nato-Abzug haben die Taliban Offensiven begonnen. Seitdem brachten sie mehr als 160 der 388 Bezirke unter ihre Kontrolle, mehrere Grenzübergänge und Teile wichtiger Überlandstraßen. Regierungskräfte versuchen, verlorene Gebiete zurückzugewinnen. Im ersten Halbjahr lag die Zahl der zivilen Opfer laut UN bei 1.659 Getöteten und 3.524 Verletzten. Das ist vergleichbar mit den Jahren 2016 bis 2018.

Damals verzeichneten die UN in dieser Zeitspanne auch jeweils mehr als 5.000 Opfer. Jungen, Mädchen und Frauen machten von Januar bis Juni 2021 fast die Hälfte der zivilen Opfer aus. Zivilisten starben vor allem durch Sprengsätze, bei Bodenkämpfen und durch gezielte Tötungen.

Für 40 Prozent der Opfer seien die Taliban verantwortlich, für 25 Prozent die Regierungskräfte. Beide Seiten wehrten sich gegen den UN-Bericht. Ein Armeesprecher sagte, die Armee hätte viele Gebiete verlassen, um zivile Opfer zu vermeiden. Die Taliban erklärten, sie hätten Zivilisten im letzten halben Jahr keinen absichtlichen Schaden zugefügt.

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