Deutsches Goalball-Team in Tokio: Rasanter Aufstieg
Das deutsche Goalball-Team hat sich dank guter Nachwuchsarbeit prächtig entwickelt. Erstmals winkt bei den Paralympics sogar Edelmetall.
Die Frisur ließ sich Johannes Günther kurz vor dem Abflug nach Tokio noch stutzen. Der Cheftrainer der deutschen Goalballer wollte vorzeigbar sein für den großen Moment am Mittwoch: Sein Team startet gegen die Türkei in das paralympische Turnier – als Mitfavorit und live im deutschen TV. Die ARD überträgt ab 10.30 Uhr. Das gab’s noch nie, dabei gehört die wohl beliebteste Sportart für Menschen mit Sehbehinderung schon seit 1976 zum Programm der Paralympischen Spiele. „Das ist eine riesen Auszeichnung“, sagt der frisch gestylte deutsche Coach Günther.
Dass die deutsche Mannschaft vorzeigbar ist, dafür haben Günther und Co-Trainer Stefan Weil seit 2010 gesorgt. Zu den Spielen 2016 in Rio hatte es das Team gerade so geschafft. Das Aus im Viertelfinale gegen die USA war keine Überraschung. Jahr für Jahr spielte man schließlich gegen den Abstieg aus der europäischen A-Gruppe. Gleichzeitig investierten die Trainer jedoch viel Energie in die Nachwuchsarbeit: 2015 wurde die deutsche U 19 Weltmeister. Zwei der Spieler, Oliver Hörauf und Thomas Steiger, rückten ins Männer-Team auf und brachten neuen Schwung. „Mit ihnen hat sich unser Niveau deutlich gesteigert“, sagt Günther.
So begann der Triumphzug der deutschen Goalballer: 2017 wurden sie EM-Zweite. 2018 gewannen sie WM-Silber, nur geschlagen von den überragenden Weltmeistern aus Brasilien. 2019 folgte der EM-Sieg, für den im Halbfinale Paralympicssieger Litauen bezwungen werden musste. Hinter den Erfolgen stecken viel Herzblut und Akribie: Zum Trainerteam gehören auch Videoanalyst Tobias Vestweber und Sportpsychologe Simon Borgmann. Die anderthalb Coronajahre ohne nennenswerte Turniere habe man mit Trainingslagern überbrückt, erklärt Günther. Nun wisse man nicht so genau, wo man im Vergleich zur Konkurrenz steht: „Aber das geht allen so, das ist kein Nachteil, den die anderen nicht auch hätten.“
Goalball ist eine der Parasportarten schlechthin, entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Kriegsversehrte mit Augenverletzungen sich nach sportlicher Betätigung sehnten. Kurz gefasst ist die Idee des Spiels: Athleten mit einer Sehbehinderung müssen einen Klingelball ins gegnerische Tor werfen. „Wir wissen schon, dass wir immer eine Erklärung mitliefern müssen, wenn wir unsere Sportart nennen“, sagt Günther, „es gibt halt im olympischen Sport kein Äquivalent zum Goalball.“ Ihm gefällt das. Denn daher gebe es auch „keine Olympiasportler, die uns überlegen wären“.
Minimale Reaktionszeiten
In der Bundesliga wird inklusiv gespielt, den Mannschaften dürfen auch sehende Athleten angehören. Einen Vorteil bringt ihnen das aber nicht, denn im Spiel trägt ohnehin jeder eine Dunkelbrille. So sehen alle gleich nichts. Bei den Paralympics dürfen alle Athleten nur eine Restsehkraft von unter 10 Prozent haben. Gespielt wird zwei Mal zwölf Minuten drei gegen drei auf einem Volleyballfeld, 18 Meter lang und 9 Meter breit. Die Tore gehen über die gesamte Spielfeldbreite und sind 1,30 Meter hoch.
Ein 1,25 Kilogramm schwerer, im Innern mit kleinen Glöckchen versehener Ball muss ins gegnerische Tor geworfen oder gerollt werden. Auf seinem Weg muss er mindestens je einmal in der eigenen Torzone und in der neutralen Zone in der Mitte des Spielfeldes aufkommen. Die jeweils drei Spieler sind sowohl Angreifer als auch Torhüter, sie dürfen den Ball mit dem gesamten Körper aufhalten. Nach einer erfolgreichen Abwehr haben sie aber nur zehn Sekunden Zeit für den nächsten eigenen Angriff. Das macht das Spiel rasant. Und der Laie kann kaum glauben, dass es blind gelingen kann, den bis zu 70 km/h schnellen Ball zu stoppen. „Da geht es um Reaktionszeiten von unter einer Sekunde“, sagt Günther.
Bei den in Tokio eröffneten Paralympics sind zehn Goalball-Mannschaften am Start. In zwei Fünfergruppen treten sie zunächst in der Vorrunde gegeneinander an. Deutschland trifft auf die Türkei, die Ukraine, Belgien und China. Die besten vier Teams spielen über Kreuz gegen die Top vier der anderen Gruppe das Viertelfinale. „Es wäre super, wenn wir unsere Gruppe gewinnen“, sagt Günther. Weltmeister Brasilien und Paralympicssieger Litauen würde man gern so lange wie möglich aus dem Weg gehen. Auch die USA und China zählen wie Deutschland zum Favoritenkreis.
Dem deutschen Team gehört auch Reno Thiede an. Der 31-Jährige aus Rostock ist seit seiner Jugend, seit seine Sehkraft immer mehr schwand, vom Goalball begeistert. Und er ist wohl so etwas wie der Ursprung aller Begeisterung in der Mannschaft. Er initiierte 2014 die Goalball-Bundesliga, er holte die EM 2019 in seine Heimatstadt. „2010 waren wir noch eine komplette No-Name-Truppe“, erinnert sich Thiede: „Wir waren zwar sportlich ambitioniert, aber die Ergebnisse haben das nicht widergespiegelt.“ Das ist nun anders. In Tokio ist eine Medaille ganz klar das Ziel. Ohne Zuschauer, das sei natürlich schade. Dafür live im deutschen Fernsehen. Das begeistert Thiede, das Team und Cheftrainer Günther, der sagt: „Das macht das fehlende Publikum ein bisschen wett.“
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