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Deutsche Fußballerinnen in WembleySpektakel statt Ikea-Norm

Neu-Bundestrainer Christian Wück hat beim Debüt endlich Mut und Variabilität ins deutsche Spiel gebracht. Ohne Popp-Fokus wirkte das Spiel befreit.

Auftakt geglückt: Christian Wück zufrieden mit Kapitänin Giulia Gwinn Foto: Dylan Martinez/Reuters

S chlecht beraten war, wer sich während des deutschen Spiels gegen England in Wembley entschied, mal schnell zwischendurch zum Getränkestand oder daheim auf Toilettenpause zu verschwinden. So atemlos, so adrenalingepeitscht verlief dieser verdiente 4:3-Sieg der deutschen Nationalspielerinnen, dass jede Sekunde Abstinenz augenblicklich gestraft wurde, ja, man eigentlich auch keine verdammte Sekunde von diesem Spektakel verpassen wollte. Gut und gern noch sieben weitere Tore hätten fallen können, der Löwenanteil für die Deutschen. Wann man das letzte Mal so einen rauschhaften Auftritt des Nationalteams gesehen hat? Lang ist’s her.

Die Aussagekraft dieses einzelnen Spiels ist gewiss begrenzt. Dennoch war das schon eine Ansage von Neu-Nationalcoach Christian Wück. Der ehemalige U17-Trainer der Männer, der in Wembley beinahe kompanyesk über den ganzen Platz pressen ließ, gehört jedenfalls offenbar nicht zur Gattung Verwaltungsfußball. Das ist eine gute Nachricht für den DFB. Fast schon hätte man angesichts der letzten beiden Jahre und der verrosteten Strukturen ja vergessen können, was für ein vielseitig talentiertes Team da eigentlich das deutsche Leibchen trägt.

Wie eine Befreiung

Arg bieder ging es zuletzt unter Martina Voss-Tecklenburg zu, viel wurde nach Ikea-Norm auf Alex Popp geflankt, als sei Poppi die einzige fähige deutsche Fußballerin. Vielleicht glaubten sie das irgendwann selbst. Beim WM-Aus gegen Südkorea agierten die Deutschen so schläfrig und berechenbar, dass man befürchten musste, sie hätten nicht so recht mitbekommen, dass es sich um ein Wettbewerbsspiel handelte. Der von allen geliebte Horst Hrubesch fügte dem deutschen Spiel zwar wieder Erfolge, aber auch eher überschaubare Originalität bei.

Das Debüt unter Wück wirkte streckenweise wie eine Befreiung von alledem. Ironischerweise lief das Spiel eins nach Popp vor allem offensiv herausragend, weil variabel, spielfreudig und bevorzugt flach und steil. Und Fans durften sich erinnern: Ach ja, es gibt da ja auch noch Linda Dallmann, Jule Brand, Klara Bühl, Giulia Gwinn. Die teils haarsträubenden Individualfehler in der Defensive, darunter von Elisa Senß und Sara Doorsoun, trübten allerdings das Bild etwas. Und lassen ahnen, wie schwer der Abgang von Abwehrchefin Marina Hegering wiegen wird.

Vorläufig aber hat Christian Wück eines erreicht: Aufbruchstimmung nach zwei Jahren Chaos und Stillstand. In Wembley wurde sein Mut belohnt. Und Mut ist für das Amt ja nicht die schlechteste Eigenschaft.

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Alina Schwermer
freie Autorin
Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de
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