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Der Wahlkampf 2021Hoffnung auf Veränderung

Lukas Wallraff
Kommentar von Lukas Wallraff

Durchaus ein spannender Wahlkampf: Endlich wurden wieder Unterschiede sichtbar. Das Bekenntnis zum Klimaschutz war wichtiger als das zur Nato.

Wechselstimmung im Wahlkampf: Ei­ne*r wird gewinnen Foto: Michael Kappeler/dpa

W er pessimistisch in die Zukunft blickt, kann schon vor dieser Bundestagswahl verzweifeln. Die Welt, so viel ist klar, wird auch nach dem 26. September nicht gerettet werden. Ja, nicht einmal das kleine Deutschland wird sich in einen progressiven Wunderstaat verwandeln, der allen zeigt, wie’s geht. Für die wichtigsten Probleme, also die Klimakatastrophe, soziale Ungerechtigkeit, globale Spannungen, Flucht und Rassismus, hat keine Partei die Lösung.

Und doch gibt der Verlauf dieses Wahlkampfs durchaus Grund zur Hoffnung. Alles in allem überwiegen die Fortschritte. Nach 16 Jahren ist die Gesellschaft wieder politisiert und debattenfreudig. Anders als in den lähmend langweiligen Wahlkämpfen der Ära Merkel, in denen die Siegerin schon vorher feststand, herrscht echte Wechselstimmung. Sogar der gute alte Straßenwahlkampf zieht wieder Menschen an. Weil der Ausgang endlich wieder offen ist und endlich wieder echte Unterschiede spürbar wurden. Vor allem, aber nicht nur beim Thema Klima.

Es stimmt nicht, dass der Klimaschutz vor lauter Lärm um den Lebenslauf von Annalena Baerbock und den Lachanfall von Armin Laschet unterging, wie oft behauptet wird. Zu diesem Fazit kann nur kommen, wer die Erkenntnisgewinne der Deutschen ausschließlich an den Stimmenzuwächsen für die Grünen misst. Diese fallen nun wohl geringer aus als anfangs prognostiziert.

Aber das heißt nicht, dass die anderen nichts kapiert hätten. Der wichtigste Erfolg der Grünen war nie ihr eigener Prozentsatz, sondern ihr Druck auf die politische Konkurrenz, auch ökologischer zu handeln. Und dieser Druck steigt eindeutig weiter. Manchmal zu stark, wie bei einer bizarren Aktion prominenter Grünen-Fans, die Enkelkinder dazu drängten, vorgestanzte Angstbriefe an ihre Großeltern zu schicken, um diese zur Wahl der Grünen zu bewegen. Solche Moralattacken dürften eher geschadet als genutzt haben.

Nachhaltig geholfen hat hingegen das Karlsruher Gerichtsurteil zum Klima. Seitdem bemühen sich viele, mehr Tatendrang zu zeigen. Eine höhere CO2-Bepreisung ist bereits beschlossen. Das Bekenntnis zum Klimaschutz wurde deutlich häufiger abgelegt als das zur Nato. Selbst Marktschreier Christian Lindner ist jetzt für einen CO2-Deckel, also staatliche Eingriffe in den Kapitalismus, und SPD-Kandidat Olaf Scholz verspricht, ein „Kanzler für Klimaschutz“ zu werden. Ob das verlogen oder ernst gemeint ist, wird sich zeigen, falls er ins Amt kommt. Das alles ist sicher noch viel zu wenig, aber einen breiteren Konsens für die Grundrichtung zu mehr Klimaschutz gibt es nur in wenigen anderen Ländern.

Noch ein Fortschritt: Auch die So­zial­politik stand wieder mehr im Fokus. Ausgerechnet Langsamredner Scholz schaffte es, die SPD aus ihrer Lethargie zu wecken und ihren alten Markenkern neu herauszuputzen. Die Versprechungen sind nicht revolutionär, aber konkret und einprägsam: 12 Euro Mindestlohn und höhere Steuern für Reiche – also auch für Scholz selbst, wie er stets geschickt hinzufügt. Wie das mit der FDP gehen soll, bleibt indes sein Geheimnis.

Doch bleiben wir beim Erfreulichen: Die Grünen haben klargestellt, dass sie den sozialen Ausgleich nicht vergessen haben. Die Linke zeigt sich regierungswilliger als früher. Die Chancen für Mitte-links-Koalitionen sind gestiegen, weil die Union einen extrem schwachen Kandidaten hat. Und weil die AfD vom Coronamissmut bisher kaum profitiert. Dass Rechtsradikale in Krisenzeiten nicht gewinnen, sondern sogar verlieren, wäre das schönste Ergebnis der Wahl. Und ein Hinweis darauf, dass Dauerhetze in sozialen Medien doch nicht so stark verfängt wie oft befürchtet.

Sogar eine rot-grün-rote Mehrheit scheint möglich. Ob sie auch genutzt wird, wäre dann die nächste Frage. Auf dem langen Weg zur Weltrettung war dieser Wahlkampf jedenfalls kein schlimmer Tiefpunkt, sondern immerhin ein kleiner Schritt voran.

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Lukas Wallraff
taz.eins- und Seite-1-Redakteur
seit 1999 bei der taz, zunächst im Inland und im Parlamentsbüro, jetzt in der Zentrale. Besondere Interessen: Politik, Fußball und andere tragikomische Aspekte des Weltgeschehens
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8 Kommentare

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  • "Nach 16 Jahren ist die Gesellschaft wieder politisiert und debattenfreudig." (Zitat)

    Das kommt mir eigentlich nicht so vor. Die SPD glaubt an ihren Mann, Scholz, und an dessen Sieg, die CDU/CSU hat mit Laschet zuletzt nicht mehr so schlechte Umfragewerte verzeichnet und eigentlich sind CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP (voll) miteinander koalitionsfähig, lediglich die Linke passt da nicht so einfach rein, aber €13 (Linke) oder €12 (SPD) Mindestlohn zeigen auch eine sehr starke Annährung von SPD und Linken.

    Da es hauptsächlich um die Persönlichkeiten von den beiden (noch) großen Parteien CDU/CSU und SPD ging, empfinde ich das nicht als besonders politisch. Soziale Fragen sind durch die Idee eines Bürgergelds, gelockertem Hartz_IV und höheren Mindestlöhnen ein Stück aus dem Fokus geraten, aber es leben mehrere Mio. Menschen in diesen Sozialsystemen und viele Kinder und Jugendliche müssen das ertragen.

    Die CDU /CSU will das sogar behalten, jedenfalls vor der Wahl ... Was dann am Ende wirklich gemacht wird und wer da am Ende was in einer Koalition macht, das ist offen. Und viele Wähler wählen, wissen aber gar nicht, was das am Ende bewirkt und vor allem für sie selber bedeutet, denn denkbar ist einiges.

    Von mir selber ausgegangen, kann ich nur sagen, ich erwarte keine großen Fortschritte in Sachen Ausgleich bei Armut und extremen sozialen Lebensbendingungen, in der Frage von Steuern, Besteuerung, Steuern für sehr Reiche und Unternehmen oder in der Außenpolitik, in der Ausrichtung der EU oder der Gestaltung von europäischen Reformen (zugunsten von den Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen).

    Mit Berlin und McPomm wird der Bundesrat auch mitbestimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in einem Jahr sage, Wow das war aber eine radikale Verbesserung, wie toll ist alles geworden.

    Dazu habe ich die Akteure zu lange gesehen und gehört. Ich glaube, das Wort fauler Kompromiss könnte bald Karriere machen ...

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Das Bekenntnis zum Klimaschutz war wichtiger als das zur Nato.""



    ==



    Zusammenhänge zu erkennen & Proritäten, wie bei Olympia, auf einem Treppchen differenziert anzuordnen gehört zu den qualifizierenden Eigenschaft eines Redukteurs.

    Ohne Nato auch kein hoch qualifizierter Beitrag der Bundesrepublik zum Klimawandel. - (siehe Gaseinklemmpolitik (derzeititige Gaspreise) als reine Macht-und Interessendemonstration der militärischen/energiepolitischen. Stärke von Wladimir).

    Die Nato sorgt dafür das Argumente und Bewußtsein die Politik bestimmen - und nicht grüne Männchen in der Ukraine, Syrien, Libyen & Mali. Immer noch nicht begriffen?

    • @06438 (Profil gelöscht):

      Interessanter Punkt.

      Aber man darf dabei nicht vergessen, dass gerade wegen des aktuellen Wundenleckens und Kleine-Brötchen-Backens der NATO nach ihrer krachenden Niederlage gegen die Taliban eine Diskussion über die Zukunft des Bündnisses, seine Ziele und Ausrichtung (die sich von der ursprünglichen Konzeption unendlich weit entfernt und verselbständigt haben), und ganz konkret diese unsägliche 2%-Ausgabenziels (ohne qualitative Vorgaben, d.h. eine reine Zwangssubvention der Rüstungsindustrie) dringender vonnöten ist denn je - aber auch möglicher und zielführender denn je!

      Es steht also zu hoffen, dass Gysi oder wer auch immer eine magische Formulierung parat hat, die eine realistische Perspektive für R2G bietet - irgendetwas in Richtung kritische Distanz zur NATO und der oben genannten Reevaluation von Strukturen, Zielen und Maßnahmen, aus der (noch) bestehenden Mitgliedschaft heraus.

      Denn es ist doch offensichtlich, dass die NATO so ohnehin nicht mehr funktioniert: es gibt zB im Nordatlantikvertrag keine Handhabe, um Erdogan (Putins Mann im SHAPE) an seinen Eskapaden zu hindern oder ihn für seine Unterstützung islamistischer Terrorgruppen - also aus NATO-Sicht Kollaboration mit dem Kriegsgegner - zur Rechenschaft zu ziehen.

      Realismus ist bei dieser Frage angebracht. Wir müssen uns bei aller Notwendigkeit der Kritik und des Widerstands gegen NATO und ähnliche Bündnisse vor Augen halten, dass Frankreich seine bestialischsten Kolonialkriege als NATO-Kritiker und später -Aussteiger führte, andererseits Norwegen, Kanada und Niederlande stets loyale NATO-Gründungsmitglieder sind, aber nie durch militärische Schandtaten auffielen - bzw im Fall Srebrenica diese unter Befehl der UNO-"Weltfriedensarmee", nicht der NATO-"Imperialistenhorde" begingen!

      Eine NATO-Mitgliedschaft ist also eher Symptom als Ursache der an ihr gemeinhin festgemachten Probleme. Alle sollten also die Diskussionskultur in dieser Frage abrüsten und öfter mal den Leo Zwo in der Garage lassen.

  • Bemerkenswert fand ich die beiden sehr guten Reden von Greta Thunberg und Luisa Neubauer in Berlin. Sie sind in voller Länge (und auf Deutsch übersetzt) auf dem auf der folgenden Seite verlinktem Video: www1.wdr.de/nachri...ohleabbau-100.html

    Wenn man sich das anschaut und mit den Äußerungen von Laschet und Scholz vergleicht, dann kann man nur sagen, die Klimabewegung hat als Folge des umfassenden Versagens der traditionellen Parteien längst die Führung übernommen: Ihre Akteure sind es, die Realitäten benennen, welche die wirkliche Situation klar machen, aufzeigen was zu tun ist, Veränderungen einfordern. Allein diese beiden jungen Frauen haben sowohl mehr Sachkenntnis, als auch mehr Mut zur Veränderung als das ganze Bundeskabinett.

    Sie sind es auch, die nicht nur in die Zukunft schauen in diesem seltsam erstarrten Land, das immer nur von Fortschritt redet, sondern auch klar stellen dass wir eine Zukunft brauchen, für uns Menschen, den Planeten, und seine Geschöpfe, dass es sich lohnt sich einzusetzen, dass die angebliche Alternativlosigkeit nicht stimmt.

    Übergroß auch der Kontrast wie es klingt, wenn Menschen für etwas kämpfen, was sie tatsächlich lieben und ihnen am Herzen liegt - im Vergleich zu dem brüllenden Desinteresse sowohl an den Anliegen von Menschen als auch der lebendigen Welt um sie herum, welches die Altkandidaten verströmen.

    Sie sind es auch, die gesellschaftliche Akteure neu in Verbindung bringen, das schmälert nicht die Leistung der Wissenschaftler und der Ingenieure zum Beispiel, die erneuerbare Energien entwickelt haben. Aber ohne einen demokratischen Aufbruch würde das eben weiter stecken bleiben in den Verzögerungsstrategien der Politik.

    Und wichtig ist auch die Überzeugung, dass Dinge veränderbar sind, und dass in Wirklichkeit die Macht von den Menschen ausgeht. Nicht nur ist der Planet von den Kindern geborgt, sondern die politische Macht ist nur geliehen von vielen.

    • @jox:

      Neubauer und Greta 4 Jahre in politisch er Verantwortung, und ihr Nimbus wäre dahin.



      Fundamentalopposition ist immer sehr bequem, und man braucht nicht links und rechts zu schauen.

    • @jox:

      Neubauer und Greta 4 Jahre in politisch er Verantwortung, und ihr Nimbus wäre dahin.



      Fundamentalopposition ist immer sehr bequem, und man braucht nicht links und rechts zu schauen.

    • @jox:

      Ich stimme Ihnen voll zu! Jetzt brauchen wir „nur noch“ den Mut der Wahlberechtigten, sich auf diese geforderten und überfälligen Veränderungen einzulassen. Dabei sollte eine Mehrheit aller Wählergrup-



      pen Veränderungen als Bauen-an-einer-gemein-



      samen Zukunft verstehen! Für die Festigung eines solchen Wandels braucht es aber Nachbesserungen in vielen Strukturen: Neutralität unserer Abgeordneten anstatt Lobbyismus; Steuerentlastungen von stark für Einkommensschwächere nach schwach für Einkommensstärkere; Tierwohl ins Grundgesetz; stärkere und schnellere Digitalisierung u.v.a.m. LG

  • 3G
    32533 (Profil gelöscht)

    Was Bekenntnisse angeht: Nicht immer ist das Ausgesprochene das Entscheidende.



    Ich wäre der letzte, der sich darüber beschweren täte, wenn das Ausgesprochene auch nach der Wahl Richtschnur für zukünftige Handlungen wäre.

    FRIEDEN SCHAFFEN OHNE WAFFEN.