Der Philosoph Marcus Steinweg: Der sich in den Rausch redet

Es ist immer gefährlich, sich mit einem guten Gewissen zu bewaffnen. Porträt des Philosophen und Vortragkünstlers Marcus Steinweg.

Ausschnitt aus der „Map of Friendship of Art and Philosophie“ (Thomas Hirschhorn & Marcus Steinweg, 2007) Foto: Romain Lopez

Gedanken formen sich beim Sprechen: Darum kreist die Überlegung in Heinrich von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Der Philosoph Marcus Steinweg beherrscht diese Praxis ziemlich gut. Das schnelle, sich mitunter selbst überschlagende Denken und die hochverdichtete, oft aphoristische Sprache in seinen Büchern sind ein Markenzeichen des Autors.

Und wohl auch der Grund, warum seine Vortragsreihe „Überstürztes Denken“ im Roten Salon der Berliner Volksbühne stets so gut besucht ist. Schon der Titel deutet auf sein Leitmotiv: Denken muss frei bleiben. Frei von gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen und vor allem vom akademischen Kanon.

Möglichst unabhängig zu sein ist Steinweg bis heute gelungen, wenn auch nicht ohne Hürden. Denn bevor er begann, Bücher in renommierten Verlagen wie Merve und aktuell bei Matthes und Seitz zu veröffentlichen und weltweit Vorträge zu halten, legte Steinweg einige Etappen zurück.

Eine universitäre Karriere kam für ihn nie infrage, aufgrund der „Neutralisierung des Denkens“, die ihm dort begegnete: „Ich habe in den 90er Jahren angefangen, in Freiburg Philosophie zu studieren. Dort habe ich schnell die Erfahrung gemacht, dass es zwar viel zu lernen gibt, aber das Wissen dazu verführt, dass man nicht selbst denkt“, sagt Steinweg und schaut ins Leere. Immerhin sei Philosophie doch die ständige Infragestellung von Informationen.

Der Vortragskünstler: Am 12. Januar 2016 beschäftigt sich Marcus Steinweg im Roten Salon der Volksbühne mit "Was ist Narzissmus?" (20:00 Uhr) in seiner Reihe "Überstürztes Denken". Am 6. Februar beginnt am Neuen Berliner Kunstverein (ab 14:00 Uhr) ein von Steinweg konzipiertes Symposium "Was ist Kritik?"

Der Autor: Bei Matthes & Seitz sind von ihm erschienen: "Inkonsistenzen", "Evidenzterror" (beide 2015). Im März soll ein "ABC der Schönheit" herauskommen. Im Merve Verlag erschienen u.a. "Aporien der Liebe" (2010) und "Philosophie der Überstürzung" (2013).

Selbst denken

Mit 21 begann er auf Empfehlung seines Professors eine Doktorarbeit, „über Heidegger und Cézanne“. Doch bereits nach wenigen Monaten verließ Steinweg, der mit 12 bereits philosophische Bücher las – von Kant bis zu Heideggers komplexem „Sein und Zeit“ – die Uni. Ohne Abschluss. Er wolle zwar nicht in einen „luxuriösen Anti-Akademismus verfallen“, aber die Uni diene mehr der Reproduktion als der Produktion von Wissen. „Aber Philosophie heißt doch auch, und das klingt jetzt naiv“, sagt Steinweg mit einer Mischung aus Entzückung und Drohung, „selbst zu denken.“

Dem Studienabbruch folgten diverse Nebenjobs, auf dem Bau, als Gabelstaplerfahrer, Hauptsache Broterwerb. Währenddessen brachte er erste Bücher heraus. 1994 erschien „Frakturen“, Steinwegs Debüt. Da er zu diesem Zeitpunkt noch keinen Verlag hatte, wurde das Buch auf einer Ausstellung eines befreundeten Künstlers als Kunstobjekt gezeigt.

Steinweg lebte damals in Köln, das in den 90ern ein Zentrum für Gegenwartskunst war. Dieser Kontext gab ihm die Möglichkeit, jenseits der Universität philosophisch zu arbeiten, und er schrieb zunächst vor allem Texte für Ausstellungen. Später studierte er dann doch noch, Kunst. Mit 31 hatte der in Berlin und Paris lebende Denker schließlich das Diplom.

Seifenblasen und Klebstoff

Heute ist Steinweg einer der wenigen etablierten Philosophen, die für ihr Schaffen keine institutionelle Legitimation benötigen, was ja im titelgläubigen Deutschland akademischer Blasphemie gleichkommt. Im Dezember kehrte er von einer Vortragsreise aus New York zurück und stellte in Berlin seine neuen Bücher „Inkonsistenzen“ und „Evidenzterror“ vor, in weniger als einer Stunde.

Es sind kurze, aber hochverdichtete Werke, die aus kleinen Kapiteln über bestimmte Begriffe bestehen, von „Politik“ über „Seifenblasen“ bis hin zu „Klebstoff“. Über Letzteres schreibt der Autor: „Es gab eine Zeit, in der man dachte, Metaphysik sei, was sich von der Realität entfernt. Heute wissen wir, dass Realität eine metaphysische Konstruktion ist. Der Klebstoff, der ihre Elemente verbindet, kann Geld heißen oder Liebe oder Gott.“

Steinwegs Bücher versuchen, diesen „Klebstoff“ sichtbar zu machen sowie die vermeintlichen Gewissheiten unserer Realitäten. Denn eigentlich sind heute alle Begriffe „toxisch“. Immerhin wurde der Begriff „Freiheit“ vom Bush-Regime verwendet, um einen Krieg im Irak zu legitimieren.

„Realität ist ein Konsistenzversprechen, das gebrochen wird“, sagt Steinweg später in der gut besuchten Galerie, in der sich ein Querschnitt der Kunst- und Theorieszene eingefunden hat: Kunstaffine mit Mänteln und Ohrringen, bärtige Männer in Denkerpose und StudentInnen, die Bücher wie Waffen in ihren Jackentaschen tragen.

Lieblingsthema: Kritik der Kritik

Alle hören gebannt zu, nachdem Steinweg sich erst mal dafür entschuldigt hat, seine Bücher selbst zu promoten. Dass es auf dem Book Launch auch viel um Politik geht, hängt damit zusammen, den ständig an ihn herangetragenen Vorwurf zu entkräften, Philosophie beschäftige sich nicht mit der „Realität“. „Die Politik erfindet ständig neue Konsistenzversprechen, die wir dekonstruieren müssen. In der Finanzkrise 2008 hieß es: Lasst euer Geld auf euren Konten. Der politisch konservative Appell behauptet immer, dass es solche Löcher nicht gibt.“

Steinweg ist nach eigener Aussage dezidiert links. Aber dabei alles andere als dogmatisch. Im Gegenteil. Er steht für die Freiheit des Denkens und damit auch vermeintlich falscher Gedanken. „Für mich gibt es kein Denken, das nicht links wäre.“ Rechts denken hieße im Gegenzug gar nicht denken.

Steinweg springt immer wieder vom Abstrakten ins Konkrete, von einem Kate-Moss-Zitat zu Foucaults „Vulgär-Kulinarismus“, zu dem sich der französische Philosoph mal mit einem Loblied auf das US-amerikanische Clubsandwich bekannte. Und dann ist Steinweg, der sich inzwischen in eine Art kontrollierten Rausch geredet hat, bei seinem Lieblingsthema angekommen: Kritik an derKritik. Viele Linke seien allzu dogmatisch und würden kritische Ansichten nur noch reproduzieren, statt sie zu hinterfragen.

Ein Beispiel: „Jeder kritische Mensch in Berlin kennt das dominante Narrativ unserer Zeit: männlich, weiß, heterosexuell. Das infrage zu stellen ist zwar richtig, aber dort stehen zu bleiben, bei der Schuldzuweisung mit gutem oder schlechtem Gewissen, ist Dekonstruktion light.“ Dass der Feind identifiziert sei, führe zu „aktivem Nicht-Denken“. Es sei immer gefährlich, sich mit einem guten Gewissen zu bewaffnen.

Positionen angreifen

Seine Konsequenz daraus? Er möchte alle Positionen angreifen dürfen. „Ob die US-amerikanische Außenpolitik, die deutsche Innenpolitik oder irgendwelche religiöse Gesinnungen. Alles, was sich als konsistent geriert, es aber nicht ist.“

In einer Zeit, in der sich tollwütige Politiker unter dem Applaus wohlstandsverwöhnter Rassisten ein geordnetes, ausländerfreies Abendland erträumen und Kriege von Regierungen als politische Lösungen verkauft werden, ist Steinwegs Ansatz notwendiger denn je. Denn die uns vorgeschriebenen Realitäten ständig zu hinterfragen, ist das beste Instrument, mit dem sich kritische Menschen bewaffnen können.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.