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Amelie Sittenauer MaterieDer Herbst der Sozialreformen kommt früher als gedacht

Foto: Sima Ebrahimi

Der Herbst kommt früh in diesem Jahr. Das liegt nicht nur an verregneten Sommerwochen und Blättern, die es schon von den Bäumen weht. Auch in der politischen Debatte sind wir um Monate voraus – dank Markus Söder. Das, obwohl die Sommerferien der erntehelfenden, bayerischen Schulkinder doch gerade erst angefangen haben!

Verantwortlich dafür ist der Vorstoß des CSU-Vorsitzenden beim ZDF-Sommerinterview. Es solle kein Bürgergeld mehr geben „für all diejenigen, die aus der Ukraine gekommen sind“, sagte Söder und stellte sich damit gegen eine von Union und SPD getroffene Koalitionsvereinbarung, die dies lediglich für seit April eingereiste Ukrai­ne­r:in­nen vorsieht. Es ist die diskursive Einstimmung auf den von Friedrich Merz angekündigten „Herbst der Sozialreformen“.

War Söder also das erste Laubblatt, fiel in den darauf folgenden Tagen der halbe Baum. Die vorderste Reihe der Union samt Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, Wirtschaftsministerin Reiche, Kanzleramtschef Frei, auch die AfD übrigens, griffen das Unions-Lieblingsthema Bürgergeld auf. Nach der Logik: Wer im Oktober Bürgergeldverschärfungen vorantreiben will, fange jetzt bei ukrainischen Kriegsgeflüchteten an.

Carsten Linnemann konnte es sich nicht verkneifen, dem Koalitionspartner SPD gar zu empfehlen, sich für die geplanten Arbeitsmarktreformen „doch den sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder“ zum Vorbild zu nehmen. Eine Spitze, die die von der Agenda-2010-traumatisierten So­zi­al­de­mo­kra­tie nicht unberührt lassen kann.

Laut Merz stehen also schwierige Entscheidungen bevor. Von Deckelungen, Kürzungen und Eigenverantwortung ist die Rede, geflügelte Worte, die man nun wieder öfter hören soll. Neben Bürgergeldreformen soll es schnell gehen bei Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Was wie genau tatsächlich umgesetzt wird, bleibt fraglich.

Die Herausforderungen der demografischen Alterung bei anhaltender Wirtschaftsflaute sind in der Tat riesig. Hat das Kabinett am Mittwoch das Rentenniveau bis 2031 bei 48 Prozent stabilisiert, steht die Rente noch lange nicht auf sicheren Beinen. Die Debatte hat sich längst schon der grundlegenderen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf bis zu 70 zugewendet. Bei der überlasteten Pflegeversicherung offenbart sich derweil eine eklatante finanzielle Schieflage, die nach Jahren starker Beitragserhöhungen kaum zu vermitteln ist.

Amelie Sittenauer ist Volontärin der taz.

Die Söder'schen Sticheleien hat die SPD in Person der Vorsitzenden und Arbeitsministerin Bärbel Bas bisher zurückgewiesen. Auch Co-Chef Lars Klingbeil kritisierte den Vorstoß und warnte vor Konflikten in der Koalition. Nach der Causa Frauke Brosius-Gersdorf ist das Koalitionsklima angespannt.

Doch wie sieht es langfristig aus? Wird die SPD erneut Wegbereiterin von Sozialkürzungen, die Ungleichheit, Prekarität und Armut verstärken? Oder schafft sie es, mit Strukturreformen die Finanzierung der Sozialsysteme langfristig auf andere, sozialgerechtere Beine zu stellen? Reformvorschläge gibt es, ob durch Einbeziehung von Beamt:innen, Anhebung von Bemessungsgrenzen, Abgabe von Kapitalerträgen, Steuererhöhungen oder jüngst vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung vorgeschlagenen „Boomer-Soli“.

Klar braucht es Pragmatismus, aber auch Standhaftigkeit

Klar braucht es Pragmatismus, wie zuletzt sogar Linken-Vorsitzende Ines Schwerdtner zeigte, mit ihrem Einlenken bei der Höhe des Renteneintrittsalters. Doch es braucht auch Standhaftigkeit bei den Kernthemen der Sozialdemokrat:innen. Sie können eins nicht wollen, nicht im Herbst und auch zu keiner anderen Jahreszeit: einen weiteren Kahlschlag.

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