Der Hausbesuch: Sie zahlt einen hohen Preis
Sich aus einer religiösen Gemeinschaft herauszuschälen und selbstbestimmt zu leben, ist ein großer Kampf. Ayla Işik hat sich ihm trotzdem gestellt.
Ayla Işik möchte einen selbstbestimmten Islam. In ihrer religiösen Gemeinschaft traf sie mit ihren Vorstellungen auf Widerspruch. Sie will persönliche Freiheit und hat deshalb den Weg der Konfrontation gewählt. Zu Besuch bei einer, die in einer deutschen Großstadt lebt, deren Namen ungenannt bleiben soll, um sie zu schützen. Ihr Name „Ayla Işik“ ist ein Pseudonym.
Draußen: Junge Männer grüßen sich auf Türkisch, aus einem Auto tönt laute Musik mit hartem Beat. Schnellen Schrittes erledigen die Menschen hier ihre Einkäufe, managen scheinbar selbstverständlich ihr je eigenes Leben. Auf dem Weg zu Işiks Haus kommt man an einem Spielplatz vorbei. Ein Mädchen fährt mit wehendem Haar auf einem Cityroller.
Drinnen: Neben Işiks Bett hängt ein großer Traumfänger. Auf einer Karte in der Küche steht: „Tanz vor allem aus der Reihe“ und „Tanz dich glücklich“. Über der Spüle an der Wand prangt als Schriftzug: „Ehrlichkeit“. „Freiheit“ steht in großen Holzlettern auf einer Fensterbank. Dahinter hat Ayla Işik Teelichter aufgestellt. Freiheit, Ehrlichkeit – das sind Werte, an denen sie sich orientiert.
Ihr Buch: Angetrieben von ihren Wertvorstellungen, hat sie ein Buch über ihr Leben geschrieben. Es heißt „BeHauptet“, sie hat es auch unter Pseudonym geschrieben. Weil ihr vorgeworfen wurde, dass das Buch innerhalb einer streng religiösen Gemeinschaft, zu der sie einst gehörte, den Ruf der Familie gefährde und mit rechtlichen Konsequenzen gedroht wurde, hat sie außerdem einzelne Details darin abgeändert.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Gott suchen: Früher hat Işik beim Betreten des Hauses jedes Mal ein Bittgebet gesprochen, zusätzlich fünfmal am Tag gebetet. Weil es in der Gemeinschaft, in der sie aufwuchs, selbstverständlich war, begann sie mit 11 Jahren das Kopftuch zu tragen. Es gab für alles Regeln. Glaube und Glaubenspraxis, sagt sie, waren „quasi vorbestimmt“. Ayla Işik ist eine, die ausbrach und sich auf die Suche machte.
Groß werden: Aufgewachsen ist sie mit ihren vier Brüdern in einer 75 Quadratmeter kleinen Maisonettewohnung, als Teilung diente im gemeinsamen Zimmer eine Gardine. 1982 geboren, ist sie die älteste der Geschwister. Eigentlich sei sie jedoch kein „typisches Mädchen“ gewesen, sagt sie. Işik meint damit, dass sie kurze Haare und oft eine Latzhose getragen hat, mit Jungs rumhing. Sie nennt sich eine „Pippi Langstrumpf, die einfach frech war“.
Träumen: Işik hat sich früh „in Schwärmereien reingeträumt“. Damit sie ihre Liebe leben konnte, heiratete sie, als sie in der 12. Klasse war. Ihr Vater fand das nicht gut, aber sie und die Mutter haben „sich durchgesetzt“. Eine Beziehung wäre sonst nicht möglich gewesen. Die Eltern ließen ihr Freiheiten, jedoch „in einem bestimmten Rahmen“. Den gab eine strenge Auslegung des Islam vor.
Mutter sein: Nach dem Abitur begann sie ein Studium und wurde im ersten Semester schwanger. „Ich wollte eigentlich erst zu Ende studieren“, sagt Işik. Stattdessen bestimmten Familie und Haushalt fortan ihren Lebensmittelpunkt.
Sich weiterentwickeln: Es ging in dieser Zeit vor allem darum, die Vorstellungen der anderen zu erfüllen. „Persönlichkeitsentwicklung und Wertebewusstsein kam an zweiter Stelle.“ Inzwischen sind ihre Kinder in der Pubertät. Nach der Trennung sei ihr vorgeworfen worden, dass sie ihre Kinder vernachlässigt habe. „Mittlerweile werde ich einfach nur noch ignoriert.“
Die anderen: Ihre Mutter begann in der religiösen Gemeinschaft, in der sie verankert war, als Erste völlig anders zu denken. Als Işik Mitte 20 war, nahm ihre Mutter das Kopftuch ab, trennte sich von Işiks Vater, entwickelte Eigensinn. „Auf einmal regnete es von rechts und links Abwehr, Verleumdung, Vorwürfe“, sagt Işik über die Reaktionen. Sie hätte sich gegenüber der Mutter mehr Toleranz gewünscht – ein Wert, der ihr wichtig ist. Die Reaktionen der anderen, sagt Işik, haben sie schließlich selbst zum Umdenken gebracht. „Es war für mich eine unmenschliche und harte Art, das war für mich alles andere als islamisches Verhalten.“
Sich spiegeln: Die Mutter hielt den Menschen einen Spiegel vor. Für sich selbst sieht Işik ihre Wandlung heute positiv. „Meine Mutter hat einen gewissen Weg geebnet.“ Sie habe ihr gezeigt, was möglich ist. „Unzufriedenheit war vorher auch da. Aber sie war nicht greifbar, ich wusste nicht, dass ich etwas verändern kann.“
Urteilen: Işik fand sich in einer Krise wieder, in der nichts mehr zusammenpasste. Sie habe versucht, „beiden Seiten gerecht zu werden“, der der Mutter und der des Umfeldes. Işik nennt das ein „unmögliches Unterfangen“. Ihren Vater nimmt sie in Schutz: „Mein Vater hat nie interveniert, er hat nie ihre Würde verletzt.“
Ein Symbol? Enttäuscht von den Menschen um sie herum, suchte Işik nach einer anderen Auslegung des Islam, jenseits von strengen Regeln. Doch die anderen hielten daran fest. Als Işik ebenfalls erwog, das Kopftuch abzulegen, sagte ihr Mann: „Wenn wir verheiratet bleiben, geht das nur, wenn du das Kopftuch auflässt.“ Aber es ging ihr nicht nur um die Tücher. Die trug sie auch kurz nach der Trennung mit sich herum. Es ging um mehr. „Hätte ich einfach nur das Kopftuch abgelegt, wäre die Selbstbestimmung nicht da gewesen.“ Aber, betont sie, es gäbe auch selbstbestimmte Frauen, die sich freiwillig für ein Kopftuch entscheiden.
Veränderung: Für Işik aber war klar: „Entweder bleibt alles beim Alten oder es ändert sich komplett.“ Etwas anderes wäre „nicht ehrlich gewesen“. Sie beschreibt sich als schlechte Schauspielerin. „Man hätte mir angesehen, dass ich unglücklich bin.“ Ihre Ehrlichkeit habe sie auch an ihre Kinder weitergegeben. Aus ihrem eigenen Elternhaus habe sie vor allem das Vertrauen gelernt.
Glaube: Heute spricht Işik von „Gotteserkenntnis durch Selbsterkenntnis“ und sagt: „Muslime sehen sich als Geschöpfe Gottes, und Zweifel und eigene Gedanken sind Teil unseres Wesens.“
Sicherheit: Fünf Jahre habe ihre Sinnkrise und Identitätssuche gedauert. Schwierig war für sie der Schmerz: „Ich wollte mit den Kindern in dem Haus bleiben, aber ich habe kein Geld verdient. Ich konnte nicht für die Kinder sorgen.“ Dass ihr Ex-Mann eine neue Frau heiratete, half ihr in dieser Zeit. „Sie hat viel aufgefangen. Gott sei Dank, ich bin bis heute froh, dass es sie gibt.“
Verstehen: Für Işik war es nicht leicht, die Regeln der „alten“ und der „neuen“ Welt zusammenzubringen. Doch Relationen haben sich mit der Zeit verschoben. Etwa als sie sich empörte, dass der Mann, mit dem sie später zusammen war, viel Alkohol trank. Inzwischen kennt sie Vergleiche, sagt: „Er hat gar nicht viel Alkohol getrunken.“
Neugierde: Später testete auch sie das Nachtleben. In ihrem Buch schreibt sie darüber, wie sie Dinge ausprobiert hat, um sich dafür oder dagegen zu entscheiden. „Ich habe immer mehr rausgefunden, wer ich bin.“ Işik sieht sich heute selbst als „ihr eigener Kompass“.
Glück: Neben einem Studium in Journalistik hat sie viel gearbeitet, finanzierte sich schließlich eine eigene Wohnung. „Meine Freiheit ist dann meine Sicherheit geworden.“ Sie hat außerdem eine Therapie gemacht, die ihr aus der Erschöpfung half. Auf die Frage, ob sie heute glücklich ist, sagt sie: „Ich habe eine innere Zufriedenheit und Dankbarkeit.“ Aber: „Glücklich ist ein großes Wort.“
Resonanz: finden: Ihre Werte, die sie immer wieder betont, hat sie gefunden, doch auf der Suche bleibt sie. Işik arbeitet selbstständig, lieber wäre sie jedoch in einem Angestelltenverhältnis. Doch es sei schwierig, etwas Passendes zu finden: „Es muss etwas Sinnstiftendes sein.“ Obwohl, gerade bestünde Aussicht, dass es doch klappt. Die Suche nach einem geeigneten Partner gestalte sich ähnlich schwierig, Işik sagt scherzhaft: „Das, was glänzt, ist nicht immer Gold.“ Sie findet, dass das sowohl für die Job- als auch für die Partnersuche gilt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen