Der Hausbesuch: Die Hüterin der kleinen Bären

Waschbären haben es Mathilde Laininger angetan. Sie helfen der Tierärztin beim Ausmisten und lehren sie Geduld.

Eine sitzende Frau mit einem Waschbären auf dem Schoß

Mathilde Laininger mit einem ihrer Mitbewohner Foto: Erik Irmer

Als Mathilde Laininger ein Mädchen war, hatte sie eine Krähe zum Freund. Dann kam ein Hund mit der Post. Sie wollte Tierärztin werden und leben, was ihrem Vater verwehrt geblieben war.

Draußen: Tief im Westen von Berlin, nahe einem See, der Krumme Lanke heißt, stehen in Reihen kleine weiße Häuser dicht gedrängt. In den Vorgärten wuchern Pflanzen und nehmen die Sicht auf Fassade und Fenster. Am Tor zum Haus im hintersten Eck hängen gleich drei Schilder zu Firma, Verein und Praxis. Es geht um Tiere, die mit Pflanzen geheilt und um Waschbären, die geschützt werden sollen.

Drinnen: Ein voller Raum zum Wohnen, Essen, Behandeln, Verkaufen, Toben; in der Luft ein schwerer Geruch. Überall sitzen, liegen oder laufen Tiere umher. Zwei Katzen, ein großer Hund mit viel Fell, Waschbären und noch mehr Waschbären. Die sind gerade hinter einer Glastür, auf der Terrasse, wuseln dort herum, schnarrend, fauchend. Dort sitzt auch Mathilde Laininger auf einer hölzernen Hollywoodschaukel. Ein Waschbär zupft ihr an der Hose, einer sitzt ihr auf dem Schoß. Die anderen drumherum, im Planschbecken, auf einem Holzbalken, am Maschenzaun, Waschbären nehmen der Reporterin den Stift aus der Hand, Waschbären nagen am Equipment des Fotografen. Einer stopft sich zu viele Datteln ins Maul, ein anderer entdeckt ein Loch im Zaun. Nur Laininger sitzt und streicht dem Tier auf ihrem Schoß langsam übers Fell.

Der Vater: Mathilde Laininger erzählt vom Vater. Der gab ihrem Leben die Richtung. In Saarbrücken erlebte er als Kind im Krieg ein Bombardement, das die Katze verwundete. Das Mitleid wuchs stark, fortan würde er immer wieder versehrte Tiere auflesen, sie pflegen. Einmal bringt er seiner Mathilde eine Krähe mit nach Hause. Sie soll Jakob heißen und fliegt Mathilde auf die Schulter, wenn sie von der Schule kommt. Später schickt der Patenonkel einen Dackelwelpen im Pappkarton per Post. Mathilde weiß schon, was sie einmal werden will.

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Haltung: Nach dem Abitur im Hunsrück das Studium, Tiermedizin. Die Mauer steht noch und Berlin ist weit weg, aber Mathilde Laininger nimmt ihren Mut zusammen und geht. Mut braucht sie auch an der Uni. Im Physiologie-Praktikum verlangt man von ihr, einem lebenden Frosch das Herz zu entnehmen und darüber zu staunen, wie es außerhalb des Froschkörpers weiterschlägt. Laininger weigert sich. „Und dann hat der Professor mich herzitiert und gesagt ‚Wenn Sie das nicht machen, dann können Sie keine Tierärztin werden.‘ Ich habe geantwortet: Okay, dann eben nicht.“ Am Ende gibt der Professor nach, sie muss bei der Prüfung kein Tier auseinandernehmen. Nach dem Studium wird Laininger Teil der Berliner Ethikkommission für Tierversuche, zwei Jahre lang, dann hat sie genug. „Eine Farce“ sei das gewesen, ständig seien Anträge einfach durchgewunken worden.

Die Falle: Dann geht sie weiter den Weg, den Tier­ärz­t:in­nen so gehen. Erst assistieren, danach die eigene Praxis. Aber für Laininger geht da noch mehr. In einer Ausbildung lernt sie, Tiere homöopathisch zu behandeln, in einer anderen Kräutersalben und -öle herzustellen. Für die gründet sie einen Vertrieb, eröffnet eine Katzenpension, besitzt zwölf Pferde und den großen Hund mit viel Fell. Die Praxis wächst, Laininger ist immer da, für sie geht immer mehr, bis gar nichts mehr geht. Sie sagt: „Ich kann schlecht Nein sagen, wenn es um Tiere oder Menschen in Not geht. Will ich auch nicht. Das stellt mich aber dann auch manchmal vor große Aufgaben.“ Zweimal wird ihr das eigene Leben zu voll, „um noch mit klarem Kopf Prioritäten setzen zu können“, zweimal verkauft sie die Praxis. Danach tritt sie in keine Falle mehr. Um 2014 herum zieht sie in das Haus an der Krummen Lanke, stellt dort einen Behandlungstisch im Allzweckzimmer auf, betreibt weiter das Geschäft mit den Salben. Dann kommt Patient Zero und alles wird doch wieder anders.

Eine Katze sitzt vor einem Plakat, auf dem Waschbären sind

Waschbären sind nicht alles Foto: Erik Irmer

Fritzi: An einem Tag im Frühling 2021 bekommt Laininger ein Waschbärbaby auf den Tisch. Dehydriert, unterernährt, viel zu klein. Zwei Jungen hatten es aus einem Fluss gerettet. „Beim Angeln trieb da ein kleines Ding vorbei, und das war Fritzi“, sagt Laininger, so als wäre das ein Wink des Schicksals. Die Eltern der Jungen wollen Fritzi nicht aufnehmen, also bleibt Fritzi bei Laininger, und die fragt sich: Was nun? Eine Wildtierrettung gibt es keine in Berlin; das Tier wächst weiter und Laininger ans Herz. Sie liest sich in Sachen Waschbären ein, beantragt eine Genehmigung samt Bauplan für ein Außengehege.

Der Instagramstar: Fritzi bleibt für immer und Fritzi wird ein Star. Kurz nach dem Einzug des Waschbärenjungen sagt Laininger zu einer Freundin „Es wäre doch cool, jeden Tag ein Bild von Fritzi zu machen.“ Die Freundin schlägt einen Insta­gram-Account vor. Seitdem postet Laininger jeden Tag ein Bild oder ein Video, der Account wächst schneller als die Waschbärin, zählt bald Tausende Abonnent:innen.

Mehr Waschbären: Lainingers Waschbärenrettung spricht sich rum, nach Fritzi kommt Paul, dann Marvin, die hat nur drei Beine. Die Firma mit den Kräutersalben läuft weiter, aber zum Anrühren geht sie nun zu ihrem Partner, „für mehr Ruhe“. Denn Waschbären wollen beschäftigt werden. Von morgens bis abends sind ein bis zwei ehrenamtliche Hel­fe­r:in­nen bei Laininger, Steuerberater, KfZ-Mechaniker, eine Frisörin. Das Leben der Tierärztin füllt sich wieder, wie damals in der großen Praxis. Aber die Waschbären geben ihr etwas zurück, sie lehren sie etwas, jeden Tag: Geduld.

Loslassen: Waschbären seien ein bisschen wie dreijährige Kinder. Das mache sie für Laininger zu etwas Besonderem. Manche Waschbären hatten die Augen noch geschlossen, als sie zu ihr kamen. „Das, was sie zuerst sehen, halten sie für ihre Mama“, sagt sie. „Und das war ich.“ Und als Mama lernt Laininger bald loszulassen. „Ich habe viele schöne Dinge gehabt. Vieles ist weg oder kaputt. Die Ohrringe liegen hinterm Kleiderschrank, viele Kleider haben Löcher. Ich habe den dritten Laptop und das zweite Handy, seit ich die Waschbären habe. Einmal im Monat muss meine Brille repariert werden“. Sie macht eine Pause und schiebt nach: „Nee, du musst Prioritäten setzen, sonst geht es nicht.“ Man könne es aber auch so sehen, sagt sie und lacht: „Waschbären wissen, du sollst nicht an weltlichen Dingen hängen“, sie seien eine große Hilfe beim Ausmisten.

Schlecht Nein sagen können: Irgendwann macht ­Laininger Fritzis Instagram-Fans ein „Meet and greet“-Angebot. In Scharen kommen sie, verbringen ganze Tage auf Lainingers Terrasse, abends bestellt sie ­ihnen Sushi. Da ist sie wieder, die Schlecht-nein-sagen-können-Falle, und der Moment für Prio­ri­tä­ten. Also setzt Laininger ein Zeitfenster, alle müssen Datteln mitbringen und 20 Euro spenden, für den Waschbären-Verein, den Laininger mit ein paar Leuten gegründet hat. Trotzdem kommt manchmal etwas oder jemand zu kurz. Der Hund zum Beispiel, der müsste längst geschoren sein.

Lobbyarbeit: Die Waschbären machen aus der Tierärztin bald eine Aktivistin. Die EU hat das Tier 2016 auf die Liste der invasiven Arten gesetzt. In der Wissenschaft ist jedoch umstritten, wie man die Population solcher Arten regulieren kann. Ein altes Rezept: jagen. Aber Jagen bringe nichts, meint Laininger. „Wenn du Waschbären extrem bejagst, wächst die Population: Die Weibchen werden früher geschlechtsreif, kriegen größere Würfe und mehr weiblichen Nachwuchs, der wiederum früher geschlechtsreif wird und so weiter.“ Die Wissenschaft nennt das: Kompensatorische Fertilität. Außerdem würden Studien außer Acht gelassen, die belegten, dass die Schäden an heimischen Arten durch den Waschbär gering seien. Da müsse sich der Mensch an die eigene Nase fassen, der habe schließlich mit der Invasion in Lebensräume angefangen.

Ein Waschbär kommt zum Fenster ren

Tiere in häuslicher Wildbahn Foto: Erik Irmer

Das Projekt: „Der Waschbär braucht eine Lobby“, sagt Laininger, und die Lobby um die Westberliner Keimzelle wächst. Um die 40 Mitglieder hat ihr Waschbär-Verein, die besonders Aktiven nehmen auch mal Waschbären mit in eine Schule, für die Bildungsarbeit. Und dann ist da noch das Pilotprojekt, mit dem die Großstadtwaschbären sterilisiert oder kastriert werden sollen. Und zwei Petitionen zur Streichung des Tieres von der EU-Liste. Lainingers Leben ist voll, und der Waschbär hat Priorität.

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