Der Hausbesuch: Alles außer bleiben
Seit über vier Jahren ist Sebbe unterwegs. Als Eremit wandert er durch Europa und wohnt überwiegend im Wald. Wie lebt es sich so?
Sebbe ist ein Eremit, meist lebt er einsam irgendwo in einem Wald. Kontakt zu finden mit Sebbe ist schwierig. Wo er derzeit gerade steckt, weiß unser Autor nicht. Die beiden kennen sich, noch von früher, und es war Zufall, dass er ihn diesen Winter einmal treffen konnte – noch bevor das neue Virus das Leben aller infizierte.
Draußen: Ein Wintermorgen in Bodenfelde, einem kleinen Dorf bei Göttingen. Ein Hauch von Nebel weht noch über die Weser. Am Ufer des Flusses, abseits der Häuser, steht ein grünes flaches Einmannzelt – Sebbes mobiles Zuhause.
Drinnen: Im Zelt kann man nur liegen. Ein Daunenschlafsack hält die Kälte fern und ein großer Rucksack füllt den Rest des Raumes aus. In ihm ist verstaut, was Sebbe, der nur so genannt werden will, für sein Wanderleben braucht.
Grün und Khaki: Sebbe ist 39 Jahre alt. Dass jemand etwas von ihm will, dass jemand mit ihm über ihn reden will, ist er nicht mehr gewohnt. Gleichwohl genießt er die Aufmerksamkeit: Mit langem braunem Haar und einem Strickband um die Stirn posiert er für die Kamera. In seiner kurzen Khakihose, dem sattgrünen Pullover, dem buschigen Vollbart und dem Wanderstab in der Hand wirkt er wie ein gutmütiger Waldschrat. Ein Waldschrat auf dem Weg zum Teutoburger Wald.
Unterwegs sein: Seit viereinhalb Jahren wandert Sebbe durch Europa – von Bremerhaven bis an die Côte d’Azur, von Litauen bis in die Alpen. Er nächtigt in den Wäldern, wäscht sich in Seen und Flüssen. Alles, was er zum Leben braucht, passt in einen 50-Liter-Rucksack: Zelt, Messer, Spiegel, Seife, Pass, ein Schlafsack und ein paar Klamotten, Zahnbürste und Nagelschere. Und, ganz wichtig, ein Magnetkompass. Mehr besitzt er nicht. 18 Kilo konzentriertes Leben.
Krise und Neubeginn: Am Anfang war die Krise. Dann die Entscheidung, loszuziehen. Sebbes Art zu leben macht ihm zum Eremiten, zum Nomaden, zum Asketen. Alles hinter sich lassen, so die Vorstellung derer, die es ganz schön finden, ein warmes Zuhause zu haben, sehen zuerst nur Entbehrung und Einsamkeit, Entrücktheit und Vergeistigung. „Ich bin aber kein Aussteiger, sondern ein Einsteiger“, sagt Sebbe, „ein Einsteiger. In ein tieferes Leben.“ Seit seinen Wanderjahren fühle er sich gesünder, erfüllter, näher bei sich als jemals zuvor. Im Alleinsein und in der Stille könne er jene Gefühle und Gedanken wieder wahrnehmen, die im „Trubel der Menschenmenge“ untergingen.
Herkunft: Acht Jahre sei er alt gewesen, als er mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern nach der Wende aus Beuthen/Bytom in Polen auf die Schwäbische Alb zog. Von Polen sei ihm nur die Sprache geblieben. Darum habe er auch diesen seltsamen Akzent im Deutschen, den keiner richtig deuten könne. Schon früh habe er sich für die Natur interessiert und nach dem Abitur ein Studium der Geowissenschaften in Bremen begonnen.
Der Wissenschaftler: Jahre später erforscht er für seine Promotion in Südamerika anhand von Meeres-Ablagerungen das Klima. Er habe eigentlich in der Wissenschaft bleiben und weiter forschen wollen. Doch dann seien ihm Zweifel gekommen. Er spürt eine wachsende Distanz zwischen sich und seiner Arbeit. „Man liest und schreibt über die Natur, aber dann findet sie nur im Kopf statt“, sagt er. Irgendwann sei die Sehnsucht „nach dem direkten Erleben der Natur“ so stark geworden, dass es ihn in eine Krise gestürzt habe.
Die Sinnsuche: Noch während er promoviert, beginnt er sich mit Bürgerrechtsbewegungen zu befassen. Mit Hinduismus und Buddhismus, Meditation und Yoga, mit indigenen Völkern und wie sie die Welt wahrnehmen. Es sei eine „spirituelle Suche“ nach einem „nachhaltigeren und tiefgründigeren Leben“ gewesen. Die Gesellschaft, in der er lebt, empfindet er zunehmend als „kränkelnd“. „Die Welt ist tiefer, als uns Zahlen und Messungen vermitteln können“, sagt er. Und deshalb habe er schließlich losziehen müssen: um die Oberfläche seines als flach empfundenen Lebens zu durchbrechen.
Die ersten Schritte: Im Juni 2015, sechs Monate nach seiner Promotion, geschieht es. Er schlägt eine Stelle als Wissenschaftler in São Paulo aus und kündigt seine Bremerhavener Wohnung. Von seiner Freundin aus dieser Zeit ist er noch nicht getrennt, die Brücken zu seinem alten Leben sind noch nicht ganz abgerissen. Von Bremerhaven wandert er in den Harz, von dort nach Tschechien, Weißrussland und Litauen. Anfangs habe er noch Kontakt zu Freundin und Familie gehalten. Aber die Kontakte seien immer spärlicher geworden. Schließlich hätten er und seine Freundin sich getrennt.
Besitzlos: Nicht nur von seinen zwischenmenschlichen Beziehungen löst er sich, auch von seinem Besitz. Mit den Monaten wird sein Gepäck immer leichter, nur das Nötigste bleibt übrig. Er verschenkt den Großteil dessen, was noch auf dem Speicher bei einem Freund gelagert ist.
Pragmatisch sein: Seine Ernährung stellt er auf vegane Rohkost um. Die Nahrungsmittel kaufe er meistens im Supermarkt, sagt er, darunter viele Nüsse, denn für seine fast täglichen Wanderungen verbrauche er an einem Tag 6.000 Kalorien. Im Sommer laufe er im Flachland schon einmal 45 Kilometer, da reichten Kräuter aus dem Wald nicht aus. Zehn Euro brauche er am Tag zum Leben. Das Geld verdient er sich, indem er als Erntehelfer arbeitet. Außerdem übersetzt er manchmal für eine Online-Agentur. Sobald er genug Geld zusammengekratzt hat, geht es weiter.
Vorbilder: „Sei du selbst die Änderung, die du in der Welt sehen möchtest“, zitiert Sebbe Gandhi sinngemäß. Er wägt seine Worte präzise ab, manchmal haben seine Sätze etwas Formelhaftes deshalb. Ist er ein Prediger, ein Missionar?. Sebbe weist das von sich, er wolle niemanden missionieren, aber trotzdem inspiriere er unterwegs viele Menschen, sagt er.
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Gefahren: Seine Wanderungen durch Europas Landschaften fordern ihm viel Kraft und Willensstärke ab. Im Winter sei es früh dunkel und ziemlich kalt – vor allem in den Höhenlagen. Sein Daunenschlafsack, sagt Sebbe, sei sein bester Freund, „der einzig warme Punkt, auf den ich mich verlassen kann“. Im Karwendelgebirge rutscht er einmal bei der Überquerung eines Geröllfeldes 20 Meter in die Tiefe und kommt nur mit viel Glück heil davon. Ein andermal versucht er die zugeschneiten Alpen zu durchqueren, wird schneeblind und muss zwei Tage und zwei Nächte an Ort und Stelle verharren, bis der Eiter in den Augen austrocknet und er wieder sehen kann.
Alleinsein: „Manchmal bin ich tagelang allein“, sagt Sebbe, auch wenn das äußerst selten sei. Europa ist dicht besiedelt, es ist fast unmöglich, keinem Menschen zu begegnen. Nur in den Bergen, sagt er, fände man noch menschenleere Orte. Wenn er alleine sei mit sich und der Natur, meditiere er oft. „Die Luft, die ich atme, die Sonne, die ich spüre, die Geräusche, die ich höre – das alles nährt mich auf eine sehr, sehr tiefgehende Art“, sagt er.
Geben und nehmen: Hin und wieder hilft er unterwegs für Kost und Logis auf einem Bio-Bauernhof aus. Oder er beteiligt sich an Freiwilligenprojekten: pflanzt Bäume, vernässt Moore oder putzt Käfige im Hundeheim. Bei diesen Gelegenheiten träfe er dann manchmal Menschen, bei denen er das Gefühl habe, sie schon ewig zu kennen. Am Ende zieht es ihn aber immer wieder fort. Bleiben, das sei nichts für ihn.
Beziehungen: Manchmal sehnt er sich nach Seelenverwandten. Von seinen alten Freunden habe er sich entfremdet, fast alle hätten sie Familie, da gebe es wenig Überschneidungen. Auch seine beiden Brüder, beides Akademiker, hätten Familie. Anders als seine Mutter könnten sie immerhin seine Lebensweise akzeptieren. Und natürlich fände er Frauen weiterhin anziehend, „aber ich habe bisher keine Frau getroffen, die sich auf meine Art zu leben einlassen würde“. Familie, Beziehung, Freundschaften, nichts davon lehne er ab, er sei nur nicht mehr darauf fixiert.
Die Zukunft: Möglich, dass er irgendwann wieder sesshaft werde, sagt Sebbe. Oder sogar heirate. Nur jetzt fühle sich seine Art zu leben authentischer für ihn an. „Das ist meine simple Botschaft: jeder soll nach seinem Gewissen und nach seinem Herzen leben, jeder hat es in der Hand, sein Leben zu verändern.“ Sebbe lebt im Hier und Jetzt, der Weg sei sein Ziel, Eile habe er keine. Morgen gehe es in den Teutoburger Wald. Da sei er noch nicht gewesen.
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