Der Hausbesuch: Damit Frauen die Wahl haben
Alicia Baier ist Medizinerin, Feministin und Aktivistin. Sie kämpft für eine andere gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs.
Alicia Baier ist eine, die verändern will. Zurücknehmen, so wie früher, will sie sich nicht mehr. Besser etwas nicht hundertprozentig gut machen, als nichts zu tun, auch und gerade als Frau, so denkt sie.
Draußen: Einen Blumenladen, einen Friseursalon und eine Kneipe findet man, wenn man die laute, vierspurige Straße hinter sich lässt. In der von kleinen Laubbäumen und parkenden Autos gesäumten Straße steht das hellgelbe Haus, in dem Alicia Baier in Berlin wohnt. Von gegenüber dringt Baustellenlärm herüber.
Drinnen: Drei der vier Zimmerwände umrankt eine einzige Pflanze. Die hat Alicia Baier bei ihrem Einzug vor fünf Jahren gekauft. „Die Pflanze ging in etwa so ab wie ‚Medical Students for Choice‘.“ Die 28-Jährige hat den deutschen Ableger der amerikanischen Gruppe 2015 in Berlin gegründet, um Schwangerschaftsabbrüche im Medizinstudium und in der Gesellschaft anders zu thematisieren. Hinter einer Leiter in ihrem Zimmer klemmt ein Transparent der letzten Demonstration: „Ärzt:innen für die Abschaffung von § 218, 219a“.
Das tut sie: Alicia Baier hat an der Berliner Charité Medizin studiert und im Januar ihren Abschluss gemacht. Sie ist Medizinerin, Feministin, Aktivistin. Die Schnittstelle ist das Thema Schwangerschaftsabbruch. Sie kämpft für eine Abschaffung der Strafgesetzbuch-Paragrafen 218, der einen Schwangerschaftsabbruch immer noch unter Strafe stellt, und 219a, der Ärzt*innen bisher das Werben für Schwangerschaftsabbrüche verbot. Anfang 2019 wurde dieser Paragraf reformiert, doch das ist Baier nicht genug.
Tabus brechen: „Wer hat die Macht, über so etwas Intimes wie die eigene Sexualität und Fortpflanzung zu entscheiden?“, darum geht es für sie. Schon 2015 hat Baier angefangen, Workshops zu organisieren, in denen sich Medizinstudierende mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch beschäftigen können. Alicia Baier findet, dass dieses Thema in der Ausbildung in Deutschland tabuisiert und in der Gesellschaft allgemein stigmatisiert werde.
Schulzeit: Die Zahl der Praxen und Krankenhäuser, in welchen Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, ist in den letzten Jahren zurückgegangen. „Es gibt in Heidelberg niemanden mehr, der oder die Schwangerschaftsabbrüche durchführt“, sagt Baier. In der süddeutschen Universitätsstadt ist sie aufgewachsen, „relativ unpolitisch, eher behütet“, wie sie sagt. Baier ging auf eine katholische Schule und fragt sich heute, was ihre ehemaligen Lehrer zu ihrem jetzigen Engagement sagen würden. Politisiert habe sie sich erst in Berlin – dorthin ist sie für ihr Studium gezogen.
Verstehen: „Sexismus habe ich schon lange gespürt – aber ich konnte das nicht einordnen, durchschaute zuvor nicht, dass es strukturell ist“, sagt sie heute. Erst durch die Heinrich-Böll-Stiftung, von der sie als Stipendiatin gefördert wurde, sei sie zum Feminismus gekommen. „Dann habe ich vieles verstanden“, sagt Baier.
Gaspedal: Der Feminismus habe ihr geholfen, zu begreifen, dass Frauen oft sehr selbstkritisch seien und sich dadurch selbst ausbremsten. „Früher habe ich mir viel weniger zugetraut, mich oft zurückgehalten.“ Jetzt sage sie sich: „Ich versuche die Dinge einfach. Auch wenn es mal nur zu 75 oder 80 Prozent gut wird, in der Summe bekomme ich mehr raus, als wenn ich es nicht tue.“ Sie hofft, dass auch andere Frauen so denken und handeln und sich wichtig nehmen. Trotz oder gerade weil sie es in vielen Bereichen schwerer haben.
Zweifel: Im ersten Jahr hat sie an ihrem Medizinstudium gezweifelt. „Es war sehr viel Auswendiglernen, ohne zu hinterfragen“, sagt Baier. Als sie sich dann bei einer Hochschulgruppe, die sich mit Global Health und dem Zugang zu Medizin beschäftigte, engagiert hat, sei ihr bewusst geworden, wie politisch Gesundheit eigentlich ist. „Dann ist Medizin doch das Richtige für mich“, dachte sie sich damals und blieb dabei.
Zugang: Was die Medizinerin beschäftigt, hat oft mit Zugang zu tun. Auch bei Schwangerschaftsabbrüchen geht es für sie darum: um Möglichkeiten für betroffene Frauen. „Wenn Frauen keinen sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen haben, dann treiben sie auf anderen, gefährlichen Wegen ab“, sagt Baier. „Ein erschwerter Zugang führt nicht zu weniger Abbrüchen, sondern zu einer größeren psychischen Belastung der schwangeren Personen“, fügt sie hinzu. Die Frauen seien darauf angewiesen, dass es genügend Ärzt*innen gibt, die ihnen helfen.
Das erste Mal: Bei einem von der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten Panel zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch sei sie das erste Mal mit der Thematik der ungewollten Schwangerschaft konfrontiert worden. Heute kreist ein Großteil ihrer Zeit und Gedanken darum. „Fortpflanzung und Familienplanung sind Themen, die auf sehr viele Bereiche unseres Lebens einwirken“, sagt sie.
Die Gründung: Während dieser Veranstaltung hört Baier dann auch von „Medical Students for Choice“, der amerikanischen Organisation. Zu Hause macht sie sich direkt daran, im Curriculum ihrer Universität nachzuschauen: Wie wird der Schwangerschaftsabbruch in der Lehre thematisiert? Da sah es schlecht aus. Nach ein paar Tagen Bedenkzeit entschloss sie sich, einen deutschen Ableger der „Medical Students for Choice“ zu gründen, und lud direkt zum ersten Treffen ein. Das alles passierte innerhalb einer Woche.
Die Gruppe: In der Hochschulgruppe kommen sie zusammen und tauschen sich gegenseitig aus, informieren sich, organisieren sich. Und veranstalten Workshops für Medizinstudierende, in denen sie sich über die unterschiedlichen Methoden des Schwangerschaftsabbruchs und die gesetzlichen Regelungen informieren können. Eine der Methoden, die Absaugung, üben sie dabei an einer Papaya-Frucht unter Anleitung einer Gynäkologin.
Mitgestalten: „Ich habe uns von Anfang an als eine politische Gruppe verstanden, die ihr Anliegen nach außen tragen muss und sollte“, sagt Baier. Während der Debatte über eine Änderung des Paragrafen 219a StGB habe sie das Gefühl gehabt, als einzelne Person den Diskurs mitgestalten zu können. „Das war eine sehr motivierende Erfahrung“, sagt sie. Und das könne jeder erleben, jeder könne den Diskurs mitgestalten und etwas verändern: „Gerade durch die sozialen Medien ist das möglich.“
Neuer Verein: Jetzt ist sie Ärztin, keine Studentin mehr und muss sich gewissermaßen „einen neuen Hafen suchen“, wie sie das formuliert. Sie ist dabei, den Verein „Doctors for Choice Germany“ zu initiieren. „Viele Medizinstudierende, die jetzt politisiert sind, wünschen sich einen Ort, wo sie das nach dem Abschluss weiterführen können.“ Auch Baier will weitermachen, die Websiten-Domain dafür hat sie schon beantragt.
Der ältere Bruder: Ihre Familie unterstütze sie bei dem, was sie tue. Ihr älterer Bruder, der in den USA studiert, hatte sogar einmal nach einem Besuch in Deutschland auf seinem Rückflug in die Staaten Handsaugen und medizinische Geräte im Gepäck. Diese hatte seine Schwester ein paar Tage zuvor bei ihrem ersten Berliner „Papaya-Workshop“ im Einsatz. Mit diesen Instrumenten hatten die Studierenden der „Medical Students for Choice“ die Absaugungen geübt. Und weil beim ersten Workshop die Infrastruktur in Deutschland noch nicht aufgebaut war, wurden ihr die Handsaugen von der amerikanischen Mutterorganisation zugeschickt. Zurück über den Atlantik kamen sie dann im Gepäck von Baiers Bruder.
Der besondere Weg: Vorangehen, den Boden bereiten, etwas verändern – das will Alicia Baier auch durch ihre konkreten beruflichen Pläne: Allgemeinärztin sein – und Schwangerschaftsabbrüche durchführen. „Diese Kombination ist in Deutschland noch unüblich, obwohl es der Versorgungslücke entgegenwirken könnte“, sagt Baier.
Vorbild: Deshalb will sie ab dem Sommer in der Praxis von Kristina Hänel lernen. Hänel war 2017 zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil sie auf ihrer Website über Schwangerschaftsabbrüche informierte. Darauf folgte eine gesellschaftliche Debatte und eine Gesetzesreform, die dazu führte, dass das Verfahren gegen sie nun neu verhandelt wird. Alicia Baier freut es, dort anzufangen, Hänel ist ein Vorbild für sie. „Weil sie mutig ist, Verantwortung auf sich genommen und sich widersetzt hat.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung