Der Hausbesuch: Der Mensch ist ein Bewegungstier
Susanne Pape-Kramer hat schon Handball-Torhüter und Cheerleader im Rollstuhl zum Tanzen gebracht. Zu Besuch bei ihr in Tübingen.
Sie springt, hüpft die alten Treppen auf und ab, lacht. Macht das, das, das und immer viel. Solange es mit Tanz zu tun hat, ist sie glücklich. Zu Besuch bei Susanne Pape-Kramer (53) in Tübingen.
Draußen: Von der Tübinger Altstadt aus am Sportinstitut vorbei, dort hat sie 20 Jahre lang gearbeitet, kommt man zu Susanne Pape-Kramer. Mit ihrer Familie wohnt sie im Stadtteil Lustnau, die Ammer mündet hier in den Neckar. Eigenes Haus, großer Garten. „Schön, aber teuer.“ Das Haus hat sie vom jetzigen Freund ihrer Mutter übernommen, seit 1999 wohnt sie hier mit Mann und ihren zwei Kindern. Ihr Sohn ist mittlerweile ausgezogen.
Drinnen: Schlicht, viel Weiß, die Bücherregale auf dem Dachboden sind farblich sortiert. „Der Alltag muss stimmig sein, ich könnte nicht in einem Chaos leben.“ Im Keller hat sie ein Tanzstudio eingerichtet, für ihre Kunden, aber vor allem auch für sich selbst. „Wenn ich da einen Tag lang nicht war, dann fehlt mir was.“ An der Wand hinter dem Esstisch hängt ein Hundertwasser direkt über dem Stuhl, auf dem sie am liebsten sitzt, dem einzigen ohne Lehne. „Anlehnen mag ich mich nicht so gerne.“
Das macht sie: Sport, schon immer. Am liebsten Tanz. Im Wohnzimmer hängt der Spruch: Man muss das Leben tanzen. „Das ist bei mir der Fall.“ Bewegt hat sie sich in ihrem Leben an jedem einzelnen Tag, außer wenn sie nicht konnte – nach Operationen. „Wenn ich eine Pause brauche, dann gehe ich schwimmen, das ist dann Erholung.“ Für den Hausbesuch hat sie sich extra „normal“ angezogen. Kurze Hose, dunkelblau, das Top im selben Ton. Für das Foto will sie sich dann doch wieder umziehen, Trainingsoutfit. „So fühle ich mich wohl, das ist für mich normal.“
Das denkt sie: Der Mensch ist ein Bewegungstier. „Überall gibt es Bewegungsmangel, nicht nur in Deutschland.“ Während eines Dozierendenaustausches hat sie in Brasilien unterrichtet, da war das ähnlich: Die Menschen sitzen überwiegend. „Aber man muss das auch nicht gut- oder schlechtreden, ich finde, das muss jeder für sich selbst klären.“ Ihr Vater war Raucher, hat fettig gegessen, war Workaholic. „Er meinte, er will das so, und dann ist das okay.“
Blut an den Füßen: Weil sie schon mit drei Jahren immer aufgedreht war, hat ihre Mutter sie zum Ballett geschickt. „Dann bin ich nie wieder raus aus der Tanzschule.“ Überall im Haus stehen, lehnen, hängen alte Ballettschuhe. Auch ihr erstes maßgeschneidertes Paar hat sie noch. Das bekam sie, als sie mit 13 Jahren anfing auf Spitze zu tanzen, mit Ziehen und Drücken passt das heute noch. Blut ist auch noch an den Schuhen dran.
In der Ballettschule durfte sie nicht aufhören zu tanzen, bis ihre Zehen geblutet haben. Sie war gut und hätte sich an einer der großen Ballettschulen bewerben können. Aber sie konnte damals nicht aus Tübingen weg. Ihr Bruder war gestorben und ihrer Mutter ging es schlecht. „Ich hatte das Gefühl: Ich kann nicht auch noch gehen.“ Jetzt sagt sie: Das hätte sowieso nicht gepasst, wegen der körperlichen Voraussetzungen, den Proportionen. „Ich war schon im Ballett immer der Junge.“
Kein Klavier: Sie wollte an der Hochschule Essen Tanzpädagogik studieren – aber dafür musste man Klavier spielen können. „Bevor du jetzt gar nichts machst, studierst du hier in Tübingen Sport“, meinte ihre Mutter. Im Nachrückverfahren wurde sie angenommen, nach einem Fachwechsel hat sie schlussendlich Sportpädagogik studiert.
Prüfung hochschwanger: Im ersten Semester hat sie ihren Mann kennengelernt. Examen mit 26, hochschwanger. Niklas kam auf die Welt, nach der Geburt war er sehr krank. Deshalb hat erst mal nur ihr Mann gearbeitet. Nachdem ihre Tochter Jule geboren und zehn Monate alt geworden war, wurde ihr vom Tübinger Sportinstitut eine Stelle im Gymnastik-Tanz-Bereich angeboten. 20 Jahre lang, bis 2015, hat sie dort gearbeitet. Hat unterrichtet, war Studienberaterin, hat zwei Bücher geschrieben, eine Tanzgruppe aufgemacht, Tanzevents organisiert. „Alles, was so anfiel.“
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Tanz: Bereits während ihres Sportpädagogik-Studiums an der Uni wurde Tanz angeboten, „aber sehr stiefmütterlich“. Als Studentin hat sie gemerkt: „Da kann man eigentlich viel machen.“ Schon während des Studiums war sie als Hilfskraft angestellt. Mit ihrem Ansatz hat sie in Tübingen eine Nische gefunden, einen Nerv getroffen. In ihren Tanzstunden wechselt sie jede Woche den Stil: Hip-Hop, Modern, Jazz. „Unterschiedliche Stilarten rufen unterschiedliche Emotionen hervor.“ Sie glaubt, das war und ist ihr Vorteil. „Die Leute, die bei mir tanzen, können sich in ihrem Ganzen kennenlernen.“
Muskelkater: Fast alle, die an der Tübinger Universität Sport studieren, müssen auch „Tanz“ belegen. Dementsprechend gibt es viele, die sich damit schwertun. „Oft sind es die Zwei-Meter-Handball-Torhüter, die eine Abneigung gegen das Tanzen haben – aber auch viele Frauen, die nicht in die Gefühlvoll-Sparte eingeordnet werden wollen.“ Die meisten haben das Tanzen bei ihr trotzdem geliebt.
Sie glaubt, das liegt daran, dass sie selbst auch Leistungssport gemacht hat: Handball, Tennis, Squash, Ballett. Das wirkt sich auf ihren Unterricht aus. „Bei mir bekommt man nach jeder Tanzstunde Muskelkater.“ Tanzen ist mit der anspruchsvollste Sport, meint sie. „Dein Körper muss von oben bis unten trainiert sein.“
Stopp und weiter: 20 Jahre und sechs Knieoperationen später beschließt sie, an der Universität aufzuhören. „Ich hatte das Gefühl, ich kann körperlich nicht mehr meinen Ansprüchen genügen.“ Und: „Ich wollte am Ende meines Lebens nicht sagen: Ich war 40 Jahre lang an der Uni.“ Eigentlich wollte sie eine Pause machen, erst mal aussetzen. Das hat dann nicht geklappt („natürlich nicht“).
Zufällig trifft sie eine ehemalige Studentin in einem Café. „Komm, wir machen mal was“, sagt sie zu Pape-Kramer. Eine Woche später machen sie sich selbstständig: Tanzunterricht und Fitness-Coaching. „Das schoss direkt durch die Decke.“
High Heels im Rollstuhl: Bis letztes Jahr trainierte sie nebenher außerdem Deutschlands erste Inklusions-Cheerleadergruppe, einige der Cheerleader sitzen im Rollstuhl. Die Initiatorin der Gruppe „war so eine Powerfrau und sie hatte immer die höchsten High Heels an, in ihrem Rollstuhl“. Nach dem Treffen war ihr klar, sie muss das machen. „Das Training war genial“, meint sie. Viel Krafttraining, viel Arme und Oberkörper. Manchmal hat sie die Cheerleader aus dem Rollstuhl gehoben und an die Sprossenwand gehängt: „Ich zähle, und ihr bleibt hängen – und fallt bitte nicht runter.“ Zeitgleich war sie Athletiktrainerin der Tübinger Männer-Basketballmannschaft in der ersten Bundesliga.
Zukunft: Jetzt will die 53-Jährige eine wirkliche Pause machen. Danach umorientieren, nicht mehr körperlich arbeiten. Was, das weiß sie noch nicht. Choreografisch, in der Flüchtlingsintegration, oder in der Bildung. Lange Jahre hat sie ehrenamtlich beim Kinderschutzbund gearbeitet. Das sind „Splitter, die sich noch nicht zusammengefügt haben“. Eigentlich hätte sie auch gerne ein Café. „Aber das ist nur so eine verrückte Idee.“
Allein in Städten: In Tübingen fühlt sie sich gut aufgehoben. „Mit dem Tanzen konnte ich hier so viel bewegen.“ Für Workshops reist sie in viele Länder, einmal pro Jahr ist sie einen ganzen Monat mit ihrem Mann im VW-Bus unterwegs. Städtetrips macht sie immer alleine. Lässt sich durch die Straßen treiben, schaut sich die lokale Tanzschule an – und geht dort abends in den Tanzunterricht.
Und wie finden Sie Merkel? „Ich habe Hochachtung vor ihr. Sie ist eine starke Frau.“ Sie mag, wie Merkel durchhält und wie diplomatisch sie ist. „Es wird ja oft gefordert, dass sie emotionaler sein soll. Aber dann würden alle Männer sagen: Das ist typisch Frau.“
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