■ Der Ex-Kanzler besorgt, was umfangreiche Forschung nie zu Tage gebracht hätte: Jetzt wissen wir, wie es in der CDU zugeht: Das System Kohl
Die CDU der Privatschatullen des Helmut Kohl und die CDU mit ihren über 600.000 Mitgliedern haben weitgehend nur den Namen gemein. Die Kohl-Partei hat ihre eigenen, bisher verdeckten Gremien: Da gibt es zunächst den Spendenbeschaffer Kiep, der Bares entgegennimmt – und bekundet, über eine eventuelle Absicht des Spenders nichts zu wissen. Dann kommt der Kassierer, der Bares empfängt, ohne zu wissen, warum immer Kiep die Scheine erhielt. So kann dann Weyrauch auch unbefangen Geld auf schwarze Konten verteilen. Dort bleibt es aber nicht liegen, sondern wandert weiter zu anderen Konten – bis sich die jetzt erst eingeschaltete Wirtschaftsprüfungsfirma außer Stande sieht, seine Wege restlos aufzuklären.
Nun ist das Geld verfügbar für den großen Vorsitzenden/Ex-Kanzler/Ehrenvorsitzenden. Glauben wir ihm einmal für den Moment, dass er in Einzelfällen weder die Absicht der Spender noch deren genaue Identität kennt. Zugegeben, beim Köfferchen mit Scheinen in Millionenhöhe ist das keine ganz einfache Vorstellung, aber das tut auch nicht mehr viel zur eigentlichen Sache: Der große Vorsitzende lässt Millionenbeträge stückeln und verteilt sie freihändig als Notgroschen, Prämien und Apanagen auf die unteren Ränge der Partei. Aus den Empfängern der Wohltaten erwächst die CDU des Typs „System Kohl“.
Als die CDU nach dem Verlust der Kanzlerschaft 1969 durch Kohl, Geißler und Biedenkopf vom Kanzlerwahlverein CDU zu einer mitgliederstarken Partei umgebaut werden sollte, waren Kohls detaillierte Personalkenntnisse aus der Kreisebene der Partei und darunter seine Stärke. In der Oppositionszeit blieb dann von dem Dreigestirn nur noch Kohl als Zentralsonne übrig. Dabei entstand in der Mitgliederpartei CDU ein persönliches Netzwerk Kohl, das auf den Kreisvorsitzenden basierte.
Nicht nur der treue Knappe Johannes Ludewig, auch Axel Nawrocki, der die Bewerbung für die Olympischen Spiele in Berlin in kostspieligster Weise in den Sand setzte, musste versorgt werden. Bei der Bundesbahn konnte die Spitze neu besetzt werden, und da fand dann neben Ludewig, der von dem Metier nicht viel versteht, auch Nawrocki eine Kohl-Bestallung; die Zentralsonne störte nicht, dass Nawrocki zuvor belastende Unterlagen über seinen Berlin-Job durch den Reißwolf gejagt hatte.
Die Firma Siemens konnte weder ihre ICE-Züge – in Konkurrenz zum japanischen Shinkansen und französischen TGV – gegen ausländische Bewerber verkaufen noch den Transrapid. Kanzler Kohl entschied über den Bau einer Referenzstrecke mit einer Länge, auf der dieses Transportmittel im Vergleich zum IC seine besonderen Vorzüge gar nicht richtig entfalten kann. Damit das nicht so auffällt, wird die gleiche Strecke Hamburg–Berlin für den ICE nicht angemessen ausgebaut. Diese Entscheidung ist besonders charakteristisch für Kohl im Stadium seines fortgeschrittenen Despotismus. Hier wurde entsprechend der Symbolkraft einer Sache entschieden, statt sachlich geprüft.
Im Jahr 2001 wird auf Beschluss der Europäischen Gemeinschaft in allen Ländern der EU eine Volkszählung durchgeführt. Als der Chef des Bundesamts für Statistik Mitte der Neunzigerjahre in einer der Kabinettssitzungen an die Notwendigkeit erinnerte, jetzt entsprechende Gesetze dafür auf den Weg zu bringen, explodierte Helmut Kohl. In Erinnerung an Turbulenzen während der letzten Volkszählung 1987 rief er erregt, so etwas dürfe es nicht mehr geben. Grund: Kohl ist nicht nur ein Despot, sondern auch feige. Nun wird Deutschland das einzige EU-Land sein, das 2001 keine Zählung vornehmen kann.
Vielleicht ist für die Gesundung unseres Gemeinwesens in der Zukunft etwas anderes noch viel problematischer als all das bisher hier beispielhaft Erwähnte: die Art, mit der Helmut Kohl Duzfreund Boris Jelzin zu frischem Geld verhalf, das im Haushalt des Bundes nicht vorgesehen war. In Telefongesprächen zwischen den gewichtigen Männerfreunden soll der Milliardenbedarf von Jelzin ermittelt worden sein. Anrufe bei Hermes oder der Deutschen Bank ließen Geld fließen, wenn gleichzeitig Freund Kohl Haftung des Bundes für die Kredite an Jelzin zusagte. In der Sprache der Haushalte werden solche Verpflichtungen „U-Boote“ genannt. Wenn jetzt der neue Finanzminister Eichel seinen Haushalt durchbringt, dürfte er kaum wissen, wie viele U-Boote im Finanzozean verborgen sind. Sie tauchen dann auf, wenn die Kredite faul werden. Kohls Flotte dürfte die zweistellige Milliardenhöhe deutlich überschreiten.
Wieso all dies? Dass Helmut Kohl so ist, wie er ist, blieb weder seinen Kabinettskollegen noch anderen Berufspolitikern verborgen. Geheimnisse sind das ja alles nicht, sondern despotische Entscheidungen, die den Medien bekannt sind. Wieso hat Kohl bis heute diesen Handlungsspielraum? Die Klärung dieser Frage ist viel wichtiger als die Aufdeckung von weiteren Konten oder die Frage, ob auf den schwarzen Konten vielleicht doch mehr als drei Millionen Mark Verfügungsmasse verschoben werden können.
Bemerkenswert ist die Zurückhaltung, mit der SPD-Politiker wie Peter Struck auf die bisher bekannt gewordenen Verfehlungen Kohls reagieren. Dazu passt auch der listig formulierte Antrag auf einen Untersuchungsausschuss gemäß Artikel 44 GG. Mit Datum vom 23. 11. wird da nicht etwa gefordert, dass Spenden, Provisionen, finanzielle Zuwendungen sowie indirekte oder direkte Vorteile allgemein zu klären sind, sondern nur, insoweit diese „dazu geeignet waren, politische Entscheidungsprozesse ... zu beeinflussen“. Wahrscheinlich wird der Druck der Öffentlichkeit nicht erlauben, dass sich die Untersuchung lediglich auf Finanzflüsse beschränkt, denen man Bestechungscharakter für Kabinettsentscheidungen nachsagt. Gelänge jedoch eine solche Beschränkung, würde dadurch vermieden, dass die Finanzgebaren der anderen Parteien gleichfalls durchleuchtet werden.
Nach dem Parteiengesetz ist jede Spende über 20.000 Mark anzuführen – mit dem Namen des Gebers im Rechenschaftsbericht der Parteien. Wird eine Spende in Einzelbeträge von 19.999 Mark gestückelt, entfällt formal die Meldepflicht, der Vorgang wird unsichtbar. Unbestritten wurde beim System Kohl gestückelt, aber ebenso unbestritten wurden auch bei der SPD Beträge dadurch unsichtbar. Dazu meint deren Schatzmeisterin, dass – anders als bei der CDU – die Spender die Stückelung selbst vorweg besorgt hätten.
In dieser Republik wird viel unter den Teppich gekehrt. Wollen führende Berufspolitiker wirklich bekannt werden lassen, welche Stasi-Agenten im öffentlichen Leben gegen die Bundesrepublik und ihre Westbindung tätig waren? Die große Koalition des Verschweigens dürfte inzwischen zu einer Allparteienkoalition erweitert sein – zur Schadensbegrenzung bei Skandalfällen. Bekannt werden soll das zum Verständnis des konkreten Skandals Notwendige – bestenfalls. Sonst aber ist angesagt, nur das auszuleuchten, was man nicht verhindern kann.
Millionen Menschen sind in diesem Land Mitglieder politischer Parteien, viele zehntausend Mandatsträger. Auch sie mögen den einen oder anderen kleinen Vorteil in der Politik nicht verschmähen – aber sie sind nicht Teil des Systems Kohl. Bei diesem und den ansatzweise analogen Kleinsystemen in anderen Parteien sorgt nicht nur das Vorenthalten oder Gewähren von Vorteilen für Disziplin. Bei Bockigkeit wird auch mitleidlos abgestraft.
Abteilungsleiter May im Adenauer-Haus weigerte sich, einen zweifelhaften Beleg abzuzeichnen. Weg war sein Job. Die Adenauer-Stiftung hatte eine Perle in ihrem Besitz, das Schlösschen Eichholz bei Brühl. Helmut Kohl dachte an eine andere Verwendung als bislang und wies den kommissarisch für solche Geschäfte zuständigen Gerd Langguth an, Eichholz zu verkaufen. Langgut war bockig und wurde entlassen.
Das System Kohl als Netzwerkpartei in der Partei ist zweifellos eine extreme Wegentwicklung von unseren Vorstellungen über politische Parteien als Träger der Willensbildung. Voraussetzung dafür ist, dass auch in anderen Parteien und innerhalb der CDU eine Entwicklung stattfand, weg von Programmparteien und hin zu Systemen persönlicher Klientel. Vielleicht wird durch die Einsicht in das System Kohl jetzt klar, warum in unserer Politik inhaltlich so wenig geschieht. So liegt vielleicht gerade in Kohls maßloser Übertreibung eine Chance, die längst überfällige Erneuerung des Parteiensystems insgesamt einzuleiten. Erwin K. Scheuch, Ute Scheuch
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