Der Ethikrat: Der Radler
Hat man Erziehungspflichten im öffentlichen Raum? Ich legte die Frage dem Ethikrat vor, der mich neuerdings betreut. Die Antwort war unbefriedigend.
V or ein paar Tagen fand ich den Ethikrat auf meinem Bett vor. Drei kleine ältliche Männer, die mir gerade mal bis zur Brust reichten. Sie trugen Anzug und Hemd und es war ein sonderbarer Anblick, sie auf meinem schlecht gemachten Bett sitzen zu sehen. „Guten Abend“, sagte ich. „Was machen Sie hier?“ „Wir sind der Ethikrat“, sagte der Älteste von ihnen, der einen Spazierstock mit Entenkopf neben sich liegen hatte. „Wir glauben, dass Ihnen Hinweise für Ihren ethischen Alltag gut täten.“
Mein ethischer Alltag liegt schon lange im Argen, ich hatte jedoch angenommen, dass das nur mir und meinem engeren Umfeld bewusst war. „Haben Sie einen Fall, den Sie mit uns diskutieren wollen?“, fragte der Älteste, während seine Kollegen ihre Ledertaschen öffneten und einen Bücherturm aufbauten. „Nikomaische Ethik“ konnte ich erkennen, „Grundlage zur Metaphysik der Sitten“.
Ich kramte in meinem Kopf nach einer bedeutsamen Frage, aber mir fiel nur Banales ein und so erzählte ich vom hippen Radler. Der hatte einen Lastwagenfahrer beschimpft, der harmlos vor ihm abgebogen war, dafür aber einen dicken SUV, der den Radweg blockierte, gewähren lassen. Er wirkte überrascht, als eine so schlecht frisierte Frau wie ich ihn darauf ansprach. „Warum sagen Sie mir das?“ war nahezu alles, was ihm dazu einfiel.
„Ist es meine Aufgabe, hippen Radlern auf die Sprünge zu helfen?“, fragte ich den Ethikrat, der eingeschlafen zu sein schien. Der Sprecher schreckte auf. „Wenn Sie es können“, sagte er. Herrlich, dachte ich ärgerlich, der Rat spricht in Kuons oder wie diese Zen-Rätsel heißen mögen.
Ich selbst bin ein paar Mal ermahnt worden und immer zurecht. Lange ging mir hinterher, als mich eine Kellnerin zurechtwies, weil ich ihr beim Bestellen nicht ins Gesicht sah. Dennoch scheint mir insgesamt wenig pädagogische Arbeit im öffentlichen Raum stattzufinden und ich könnte nicht sagen, ob es daran liegt, dass die Leute sie nicht als ihre Aufgabe empfinden oder ob sie Angst vor den Folgen haben.
„Darf ich an den jungen Menschen im Zug ohne Mundschutz erinnern“, sagte der Älteste des Ethikrats, während die anderen zustimmend nickten. Natürlich erinnerte ich mich. Ich hatte zehn Minuten überlegt, ihn anzusprechen, aber ich tat es nicht, weil ich Angst hatte. Er schien nur darauf zu warten, den ersten, der ihn anmeckerte, ordentlich zu hauen.
„Es sind Koans, an die Sie denken“, korrigierte mich der Ethikrat, während ich meiner Feigheit nachhing, und das brachte mich zusätzlich auf, denn an jeder Ecke stolpere ich über Überlegenheit aller Arten, der politischen Überzeugung, der Ernährung, der Inneneinrichtung und Kindererziehung.
Das moralische Überlegenheitsgefühl geht in allen möglichen Sparten wie ein Hefepilz auf. Vielleicht gedeiht der Pilz so gut, weil sich die Menschen in immer homogeneren Milieus bewegen, wo alle Algen essen oder niemand Algen isst, wo alle Impfgegner sind oder niemand. Vielleicht ist die Absenz öffentlicher Erziehung ein Zeichen dafür, dass die Leute sich als gleichberechtigt und mündig empfinden, jede Intervention ist ein Übergriff. Ihre Bildung ist abgeschlossen und die der Kinder dem engsten Familienkreis und ausgewähltem Fachpersonal anvertraut.
Die stummen Mitglieder des Ethikrats verstauten ihre Bücher. Meine Fragen schienen zu banal, als dass man Literatur dazu hätte bemühen müssen. „Wo ziehen Sie die Grenze zwischen dem Gefühl moralischer Überlegenheit und dem Bedürfnis, eine Norm, die Sie billigen, durchzusetzen?“, fragte der Sprecher des Ethikrats beiläufig, während er die Kommode mit den Spielen durchforstete. Keine Ahnung, dachte ich und schwieg und dachte an die Norm, zu fragen, bevor man etwas ausleiht.
„Augenscheinlich bleiben Lücken in der Erziehung, wer immer dafür zuständig sein mag“, sagte ich und blickte fragend auf den Ethikrat, der begonnen hatte, Halma auf meinem Bett zu spielen. „Wie soll man sich dazu verhalten?“ Niemand antwortete. „Ist meine Frage zu banal?“, fragte ich böse. „Nein“, sagte der Sprecher begütigend und tat einen Zug, der seine Mitspieler vernichtete. „Und wie lautet die Antwort?“ Aber der Ethikrat war zu vertieft ins Spiel, um zu antworten.
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