Der Ethikrat: Status-Scham

Darf man sich wegen der Rumpeligkeit der Wohnung schämen, wenn einen erfolgreichere Menschen besuchen? Der Ethikrat findet schon die Frage abwegig.

Ein Zettel auf dem steht: "Suche nach einer Wohnung"

Die Wohnungssuche endet sobald klar wird, dass wir ohnehin keine höhere Miete zahlen können Foto: Paul Zinken/dpa

Vor ein paar Wochen habe ich wieder begonnen, nach einer Wohnung zu suchen. Die Suche verläuft in Wellen, die kommen, wenn ich mich an die Beschwerden der Nachbarn über die Lautstärke der Kinder oder meiner Trompete erinnere. Sie gehen, wenn zu offensichtlich ist, dass wir keine höhere Miete zahlen können. An einem Abend, als ich durchs Treppenhaus geschlichen war in der Hoffnung, niemandem zu begegnen, fand ich den Ethikrat am Küchentisch vor.

Der Rat besucht mich seit ein paar Wochen unaufgefordert, um mir in meinem ethischen Alltag auf die Sprünge zu helfen. Er besteht aus drei alten Männern von geringer Größe, die auch diesmal Anzug trugen, und es war mir unangenehm, dass es schlecht aus der Spülmaschine roch und allzu lange niemand den Boden gefegt hatte. „Guten Abend“, sagte ich. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ „Nein danke“, sagte der Ethikrat und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sprachen alle seine Mitglieder zugleich.

„Warum haben Sie sich geschämt, als der Besuch, der in großzügigeren Verhältnissen lebt, vergeblich nach einem Wohnzimmer bei Ihnen suchte?“, fragte das älteste Mitglied, das der Ratssprecher zu sein scheint, unvermittelt. „Warum wohl“, sagte ich mürrisch. „Weil ich es zu nichts gebracht habe.“ „Und wie verhielt es sich beim Besuch der Kaufinteressenten?“, fragte der Sprecher weiter.

Es hatte sich so verhalten, dass Männer in teuren Wollmänteln durch das Haus gegangen waren und sich auch unsere Wohnung besahen. Ich saß mit den Kindern auf dem Küchenboden und versuchte, durch die Schönheit meiner Sprache die Schäbigkeit des Drumherums zu umnebeln.

Ist es üblich, Makler zu bestechen?

„Sind das die richtigen Gründe für Scham?“, fragte der Ethikrat und gab sich keine Mühe, so zu tun, als sei das tatsächlich eine Frage. „Scham ist ein sozial geprägtes Gefühl“, sagte ich. „Wie soll ich mich als ökonomisch erfolgloses Mitglied der Mittelschicht nicht dafür schämen, dass ich den Standard meiner Peer-Group verfehle?“ Der Sprecher des Ethikrats richtete sich auf dem Küchenstuhl, der eigentlich zu groß für ihn war, auf und sah mich befremdet an. „Das meinen Sie sicherlich nicht ernst, gute Frau“, sagte er. „Es muss der erste Anspruch an uns sein, uns von falschen Wertvorstellungen zu lösen.“

„Und wenn es nicht gelingt?“, fragte ich. „Wenn man nicht über die notwendige Souveränität verfügt?“ „Dann arbeitet man an sich“, sagte der Sprecher verstimmt. Er nickte den anderen Ratsmitgliedern zu, sie rutschten von meinen Küchenstühlen, ohne dabei etwas an Würde und Zorn einzubüßen, und gingen. Ich blieb beschämt zurück, diesmal vielleicht zu Recht.

Nach dem Telefonat fragte ich mich plötzlich, ob es nicht üblich ist, Makler zu bestechen

Kürzlich trug mich eine neue Wohnungssuchwelle davon, ich schickte einer unwilligen Maklerin alle Unterlagen noch vor dem Besichtigungstermin. Nachdem ich ihr unsere finanzielle Grenze genannt hatte, wurde sie zögerlich und unser Gespräch verlief so, als sei ich ein Leibeigener des 18. Jahrhunderts, der seinem Herrn eine Heiratserlaubnis abringen will.

Danach fragte ich mich plötzlich, ob es nicht üblich ist, Makler zu bestechen. Mir fiel eine Meldung ein, wonach in Berlin Eltern schon die Kitas bestechen, um einen Platz zu bekommen. Es war, als öffnete sich eine Klappe in meinem Leibeigenen-Karton, aus der heraus ich sehen konnte, welchen Gesetzen die Welt tatsächlich folgt. Ich vermied es, darüber nachzudenken, ob ich selbst aktives Mitglied der Bestecherszene würde, wenn ich die Mittel dazu hätte.

Der Ethikrat ist eine Weile nicht vorbeigekommen und ich habe Sorge, dass er mich als Schülerin aufgegeben hat. Aber er hat eine Visitenkarte auf dem Flurregal hinterlassen. Ethik­rat, Postfach 7334, steht da auf Büttenpapier.

Ich schrieb ihm eine Postkarte: „Am Montag glaube ich, die Maklerin ist korrupt, nur weil meine Stimmung grau ist wie der Regen. Und am Dienstag glaube ich, das Maklerwesen ist grundgut, nur weil mich der Busfahrer angelächelt hat.“ Ich bräuchte ein stabileres Weltbild, schrieb ich, gerade als jemand, der im Bereich praktische Ethik dringend um Fortschritte bemüht sei. Noch habe ich keine Antwort.

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