Der Bundeskanzler in London: Undiplomatisches Grinsen
Olaf Scholz und Boris Johnson sind sich in der Ukraine-Politik in vielem einig. Nur das Thema Nordirland bringt den eloquenten Premier ins Stottern.
Großbritannien hat schon im Januar Waffen an die Ukraine geliefert. Berlin ist viel zurückhaltender. Auch dass Deutschland zudem weiter Milliarden an Putin für Gas und Öl überweist, halten manche in London für eine Fortsetzung von Berlins Appeasement-Politik gegenüber Moskau. Vielleicht betonen Johnson und Scholz in ihren Statements gerade deshalb, dass man sich im Grundsätzlichen einig sei.
Putins Krieg habe den Westen vereint, so beide unisono. Johnson hält die deutsch-britischen Beziehungen auch wegen Putins Krieg für „so lebendig wie nie“. Man rückt zusammen. Scholz lobt die Sanktionen des Westens als „hochwirksam“. Russland habe keinen Zugang mehr zu westlicher Hochtechnologie, und könne sich diese auch nicht auf dem Weltmarkt beschaffen. „Wir werden erfolgreich sein“, sagt Scholz.
Einigkeit in der Kriegsstrategie
Auch Johnson glaubt, dass die Sanktionen erst künftig ihre ganze Wirkung entfalten werden. Einig sind sich beide auch in der grundlegenden Kriegsstrategie: keine direkte militärische Konfrontation mit Russland, aber unterhalb dessen fast alles, um der Ukraine zu helfen.
Man ist nett zueinander. Der britische Premier schaut verständnisvoll auf die missliche Tatsache, dass Deutschland weiter Milliarden für russisches Gas zahlt. Man könne eben „Energiesysteme nicht über Nacht umwandeln“. Johnson lobt, dass Deutschland „Mitte 2024 kein russisches Gas mehr kaufen“ werde. Das sei „ganz außergewöhnlich“.
Johnson redet prägnant, Scholz etwas länger. Scholz und Johnson sind unterschiedliche Temperamente. Unterkühlt und hitzig, sachlich und polemisch.
Diplomatie und Waffenlieferungen
Einen bemerkenswerten Unterschied gibt es in der Frage, ob es sinnvoll ist, mit Putin zu reden. Johnson, in Dauerkontakt mit Kiew, hat das letzte Mal kurz vor der Invasion mit Putin gesprochen. Verhandlungen mit ihm seien „nicht sehr vielversprechend“, man könne ihm nicht trauen. Scholz hingegen verteidigt die Gespräche, die Macron und er mit dem Kreml führen.
Interessant ist die Begründung: „Wir versuchen dem russischen Präsidenten zu sagen, wie die Lage wirklich ist“, – nämlich, dass die russische Invasion stockt, viele russische Soldaten tot und Waffen zerstört sind. All das, so der Kanzler, erfahre Putin „vielleicht aus seinem engsten Umfeld nicht“. Dieses Bild ist ein Blick in den Abgrund. Ein Diktator, der einen Angriffskrieg führt, ist schlimm. Ein Diktator, der einen Angriffskrieg führt und seine eigene Propaganda glaubt, ist noch schlimmer.
Und dann gibt es die Waffenfrage. Scholz betont immer wieder, man stimme sich mit London, Paris und Washington ab und werde keinen Alleingang wagen, indem man etwa, wie von Kiew verlangt, schweres Gerät liefert. Nicht nur in London hat man den Eindruck, dass der deutsche Alleingang darin besteht, möglichst wenig Waffen zu liefern.
Definition von Defensivwaffe verändert sich
Am Donnerstag waren ukranische Regierungsvertreter in London. Sie würden das militärische Gerät bekommen, das sie brauchen können, so Johnson. Aber nur Defensivwaffen. Doch was Defensivwaffen sind, scheint sich gerade unter der Hand zu verändern.
In Deutschland will eine Rüstungsfirma 100 Marder-Schützenpanzer an Kiew verkaufen. Scholz äußert sich dazu in London wie immer: umwegig. Berlin liefere schon Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrwaffen und Munition. Die Frage nach dem Marder-Panzer „lasse sich nur sehr fachlich beantworten.“.
Die Bundesregierung bezweifelt, dass diese Schützenpanzer einsetzbar sind. Es brauche dafür monate- oder sogar jahrelange Ausbildung. Diese Begründung – und Scholz Terminus „fachlich“ – zeigt aber auch eine Verschiebung des Diskurses an. Das generelle Nein zur Lieferung von Schützenpanzern, die auch offensiv eingesetzt werden können, weicht auf.
Reizthema Brexit und Nordirland
Scholz war schon in Warschau, Paris, Washington. Auch wenn er und Johnson sich schon bei Nato und G7 getroffen haben, sein offizieller Antrittsbesuch in London erfolgt spät. In London ist man darüber nicht amüsiert. Denn man kann es als Symbol für die seit dem Brexit gesunkene internationale Bedeutung des Königreichs lesen.
Es wird nun regelmäßig Treffen der beiden Regierungen geben. Berlin hat mit mehreren Staaten solche Regierungskonsultationen. Sie schaffen Nähe und Verbindlichkeit, aber auf eine eher lockere Art.
London hat nach dem Brexit – den Johnson nicht erwähnt, Scholz dagegen genüsslich gleich zu Beginn seines Statements – ein gesteigertes Interesse an einer engeren Bindung an Berlin. Der Elefant im Raum ist der Artikel 16 des Nordirlandprotokolls. Nordirland gehört politisch zu Großbritannien, ist aber laut Artkel 16 trotzdem faktisch Teil der EU.
Das hat Brüssel gegen London in den Brexit-Verhandlungen durchgesetzt, um eine Eskalation im Nordirland-Konflikt zu verhindern. Johnson will die Zollregelungen nun unbedingt ändern. Er hofft, dass die Chancen dafür im Windschatten des Ukrainekrieges und angesichts der neuen Einigkeit des Westens gestiegen sind. Und er hofft auf Hilfe aus Berlin.
Berlin bleibt auf EU-Linie
Auf die Frage eines britischen Journalisten, ob Scholz und Johnson auch über den Artikel 16 gesprochen haben, verliert der sonst so eloquente britische Premier fast die Kontrolle. Man habe „so harmonisch“ darüber geredet, dass er diese Harmonie nicht stören wolle, in dem er jetzt „noch etwas dazu sagt“. Genau das tut er Sekunden später. Der Artikel 16 müsse „vom Tisch“. Aber man sei bei allen anderen Themen völlig einig. Also – bei Nordirland eben nicht. Dass sich ein gewiefter Politiker in einer Minute so widerspricht, ist selten.
Bei der Nordirland-Frage liegen Welten zwischen Johnson und der EU. Die vage Hoffnung auf Sonderabsprachen mit Berlin in Sachen Nordirland sind wohl Asche. Berlin will nicht von der Linie in Brüssel abweichen.
Während sich Johnson um Kopf und Kragen redet, grinst Scholz, sonst bekannt für minimalistische Mimik, über das ganze Gesicht. Fast undiplomatisch.
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