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Depressionen und AntidepressivaPillen statt eines Gesprächs

In Deutschland steigt die Medikamentierung mit Antidepressiva kontinuierlich an. Oft werden andere Behandlungsmethoden gar nicht erst ausprobiert.

In Deutschland werden immer mehr Antidepressiva verschrieben Foto: Gillian Blease/imago

E s ist viele Jahre her. Ich stand vor dem Gebäude der psychiatrischen Notfallambulanz. Ich hatte drei Tage lang nicht geschlafen, nicht gegessen. Ich hatte eine traumatische, belastende Situation in meiner Beziehung erlebt, hatte das Gefühl, dass der Schmerz mich auffraß. Ich wollte mit jemandem sprechen, einer Person, die sich mit emotionalen Ausnahmezuständen auskannte. Was ich genau wollte, wusste ich wahrscheinlich gar nicht. Aber ich brauchte Hilfe. Also ging ich rein.

Der Psychiater hörte mir zu und nickte ab und zu. Dann sagte er: „Sie können doch an jedem Finger Ihrer Hand einen anderen Mann haben. Das wird schon.“ Dann nahm er ein Rezept zur Hand: „Ich verschreibe Ihnen ein Antidepressivum. Das heißt Mirtazapin. Das macht müde. Nehmen Sie es abends, dann können Sie schlafen.“ Er stand auf und öffnete die Tür.

Was ich erlebte, ist nicht alltäglich. Aber es ist auch keine Ausnahme. In Deutschland werden heute siebenmal so viele Antidepressiva verschrieben wie vor 25 Jahren. Um es vorneweg zu sagen: Es ist wichtig, es ist lebensrettend, dass es Antidepressiva gibt.

Sie helfen Millionen von Menschen auf der Welt, die unter einer Depression, einer lähmenden, schweren Erkrankung leiden. Aber: Antidepressiva werden auch Menschen verschrieben, die keine oder nur leichte Depressionen haben, die unter anderen psychischen oder gar keinen Erkrankungen leiden.

Nebenwirkungen und Studien

Eine kanadische Studie aus dem Jahr 2016 zeigte, dass nur 50 Prozent der Patient*innen, denen Antidepressiva verschrieben wurden, eine Depression hatten. Die anderen 50 Prozent hatten Leiden wie Schlaflosigkeit oder Bulimie. Auch ist Depression nicht gleich Depression: Antidepressiva wirken nachweislich bei schweren Depressionen; bei leichten und mittelschweren Depressionen konnte man bisher nicht nachweisen, dass sie besser wirken als andere Therapiemethoden wie eine Psychotherapie.

Ein Teil der immensen Steigerung an Antidepressiva-Gaben liegt sicherlich auch an der größeren Sensibilität für Depressionen. Ex­per­t*in­nen warnen aber vor der „starken Dominanz der Medikamente“. Nur bei 16 bis 25 Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland, die die Diagnose Depression erhalten, kommen auch psychotherapeutische Methoden zum Einsatz. Und das, obwohl Antidepressiva schwere Nebenwirkungen haben können; sie wirken immerhin im Gehirn und greifen in das empfindliche System neuronaler Transmitter ein.

Zu vielen Menschen werden diese Medikamente verschrieben und Nebenwirkungen in Kauf genommen, anstatt dass mit ihnen gesprochen wird. Dazu bräuchte es aber eine bessere Versorgung mit Psychotherapieplätzen.

Ich nahm das Antidepressivum nicht, das mir der Arzt verschrieb. Wer weiß, wie lange ich etwas eingenommen hätte, das nicht in meinen Körper gehörte. Traurigkeit und Schmerz gehören zum Leben dazu. Man muss sie nicht mit Medikamenten betäuben. Es gibt andere Wege.

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Gilda Sahebi
Ausgebildet als Ärztin und Politikwissenschaftlerin, dann den Weg in den Journalismus gefunden. Beschäftigt sich mit Rassismus, Antisemitismus, Medizin und Wissenschaft, Naher Osten.
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7 Kommentare

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  • "In Deutschland steigt die Medikamentierung mit Antidepressiva kontinuierlich an."

    Vielleicht gibt es ja immer mehr Depressionen?

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  • 0G
    08630 (Profil gelöscht)

    Stand der Dinge ist heutzutage antidepressiver nur bei schwereren Form von Depression zu verschreiben. Bei leichteren Form ist ein Nachweis von einer positiven langfristige Wirkung bisher nicht erbracht worden. Diesen Nachweis für Psychotherapien gibt es.



    Natürlich ist im Einzelfall immer genau hin zu schauen ob nicht eine Ergänzung mit antidepressiver sinnvoll sein könnte. Traurigkeit und Schmerz gehören zum Leben – natürlich! Aber die Kennzeichen eine Depression sind ja noch ganz andere Symptome. Ganz ganz wichtig ist auf jeden Fall, dass der behandelnde Arzt oder auch Psychotherapeut sein Handwerk versteht. Viele Wege führen nach Rom und auch viele Wege führen aus der Depression heraus. und sicher lässt sich ein solches Thema nicht mit wenigen Worten hier abhandeln. ich würde mir wünschen, dass regelmäßiger auch in der Tat über dieses Thema berichtet wird und ganz besonders die Therapiemöglichkeiten dargestellt werden. Heutzutage werden menschen mit Depressionen Lege artis mit Kombinationstherapien wie Achtsamkeitstraining und Bewegungstherapie nur um ein zwei zu nennen behandelt.

  • Psychotherapie und Antidepressive gegeneinander zu stellen ist nicht zielführend, wird aber leider häufig gemacht. Beides wirkt auf komplett unterschiedliche Weise und jedes kann Leben retten. Unsere Kultur des "Wegmachens" unterstützt die anonym, technische Pille, viel zu oft. Die Lebensfragen mit dem Potential hohe Stresssymptome über lange Zeit auszulösen löst dann eher die Psychotherapie. Eine Kombination ( bei schwere Depression ) ist wohl am erfolgreichsten.

  • Ich hatte das große Glück direkt nach meiner Diagnose eine für mich passende Therapeutin zu finden,



    alles andere als selbstverständlich bei chronischem Therapeutenmangel.



    Die regelmäßigen Gespräche haben mich weit vorwärts gebracht, doch nach zusätzlichen Schicksalsschlägen



    hat reden alleine nicht mehr geholfen.



    Mir hat die zusätzliche medikamentöse Therapie wahrscheinlich das Leben gerettet.



    "Traurigkeit und Schmerz gehören zum Leben dazu." - wer solchen Unsinn in Bezug auf Depressionen formuliert,



    hat das Problem wohl nicht wirklich verstanden.

    • @SuedWind:

      Ich habe auch Depressionen. Seit ein paar Jahren nehme ich auch Medikamente; hatte mich lange geweigert. Und sie helfen mir definitiv.

      Dennoch gebe ich der Autorin Recht, dass es nicht in jeder akuten psychischen Krise Medikamente braucht. Nach einer schlimmen Erfahrung geht es auch psychisch Gesunden erst einmal richtig besch***eiden. Der Unterschied zwischen Gesunden und Kranken liegt dann aber darin, dass die Gesunden sich innerhalb von ein bis drei Monaten wieder aufrappeln.

      Ich habe nicht den Eindruck, dass die Autorin wirklich Kranken die Medikamente wegnehmen will. Sie hinterfragt nur, ob sie nicht vielleicht doch zu häufig verschrieben werden.

    • @SuedWind:

      Exakt

  • Für eine bessere Versorgung mit Psychotherapie braucht es nicht mehr Therapeut*innen, sondern mehr Kontrolle, wer einen Therapieplatz erhält. Die Arbeit mit psychisch Gesunden in einer Lebenskrise ist halt emotional viel weniger anstrengend für Therapeut*innen als die mit tatsächlich Kranken. Deshalb bieten diese den Gesunden schnell einen Therapieplatz an und lassen die Kranken warten.

    Das Problem sind aber auch Journalist*innen, die der Psychotherapeutenlobby auf den Leim gehen. Der Psychiater, der Sie behandelte, wusste nur zu gut, dass es ihm kaum möglich ist, Ihnen schnell einen Therapieplatz zu verschaffen. Aber ein Rezept ausstellen, das konnte er. Die wollen auch nur helfen.



    www.spiegel.de/ges...det-a-1259159.html