Deniz Yücels Buch über seine Haft: Der Agentterrorist erzählt
Der frühere taz-Redakteur hat ein großes Buch über sein Jahr im türkischen Gefängnis geschrieben. Es ist auch die Geschichte einer tiefen Liebe.
Lange hat es gedauert, jetzt liegt es auf dem Tisch. Deniz Yücels Abrechnung mit Erdoğans Türkei und seinen Erfahrungen im türkischen Gefängnis erscheint in diesen Tagen. Sie dürfte auf großes Interesse stoßen, auch wenn das Land am Bosporus nicht mehr so im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht wie noch vor einem Jahr.
Um es gleich vorweg zu sagen: Der frühere taz-Redakteur, dann Welt-Korrespondent und ehemals prominenteste politische Gefangene aus Deutschland hat mit „Agentterrorist“ ein berührendes Buch geschrieben.
Anders als es die Unterzeile des Titels „Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie“ suggeriert, ist es keine Schrift, die im bekannten flapsig-ironischen Deniz-Yücel-Sound daherkommt. Auch wenn sich einige Stellen finden, die diesen Eindruck erwecken – so etwa die Überschrift des Kapitels, in dem es um Yücels Aufenthalt in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters im Istanbuler Vorort Tarabya geht („Bei Tayyip um die Hecke“) –, hat das Buch insgesamt doch eine andere Tonlage.
Präzises Tagebuch
Es ist vor allem um präzise Sachlichkeit bemüht. Bis auf den Quadratzentimer genau wird die Größe der Zelle beschrieben. Wir erfahren genau, wie es in Silivri, dem größten Knast für politische Häftlinge in der Türkei, aussieht. Und wir nehmen Teil an den Gesprächen, die der Häftling Deniz Yücel trotz Isolationshaft mit seinen Zellennachbarn irgendwie führen konnte.
Die Schrift ist über weite Strecken ein Gefängnistagebuch. Aber genauso ein Buch über die Türkei unter dem Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, vor allem in der paranoiden Atmosphäre nach dem misslungenen Putschversuch gegen Erdoğan im Juli 2016 und dem sich daran anschließenden Ausnahmezustand.
Einmal erfährt man, wie der äußere Gefängnisalltag abläuft. Gleichzeitig aber schreibt Deniz Yücel darüber, was dieser Gefängnisaufenthalt mit ihm als Person macht. Wie die anfängliche Erwartung, nach der polizeilichen Festnahme bald wieder auf freiem Fuß zu sein, in die Angst vor einem unabsehbar langen Knastaufenthalt umschlägt, als der Haftrichter in Istanbuls berüchtigtem Justizpalast in Çağlayan tatsächlich auf Untersuchungshaft besteht, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu geben, diese rein politische Entscheidung noch juristisch zu verbrämen.
Deniz Yücel hat sich an Gefängnisbüchern anderer türkischer Intellektueller orientiert, die vor ihm die „Schule der Nation“ absolviert haben, allen voran bei dem größten türkischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Nazim Hikmet. Denn der Knastaufenthalt von Deniz Yücel, so sehr er in Deutschland die Öffentlichkeit bewegt hat, ist in der Türkei ja keine singuläre Erfahrung, sondern für Journalisten, Schriftsteller, Denker und Dichter eher die Regel als die Ausnahme. „Wer bei uns nicht im Knast war, muss wohl was falsch gemacht haben“ ist ein geflügeltes Wort unter türkischen Intellektuellen, nicht erst seit Recep Tayyip Erdoğan sein drakonisches Regime errichtet hat.
Gefängnis- und Liebesgeschichte
Doch die Ausmaße der Repression und die Masse der Journalisten und Regimekritiker, die in den Jahren seit der Niederschlagung des Gezi-Aufstandes im Herbst 2013 und dann noch mal verstärkt nach dem Putschversuch im Sommer 2016 in der Türkei in die Gefängnisse geworfen wurden, ist nur noch vergleichbar mit der Phase nach dem Militärputsch 1980.
Deniz Yücel nimmt deshalb auch immer wieder Bezug auf die anderen Journalisten, die außer ihm alle auch im Knast sitzen, viele von ihnen gleichzeitig in Silivri, von denen er einigen auch hin und wieder beim Gang zum Arzt oder bei anderen Gelegenheiten, zu denen er seine Zelle verlassen kann, begegnet.
Er weiß, dass er gegenüber den meisten anderen Häftlingen privilegiert ist, weil sein Fall zu einer so gewaltigen Solidaritätsbewegung in Deutschland geführt hat, dass die Bundesregierung und durch deren Druck dann auch die türkische Regierung das nicht auf Dauer ignorieren können. Deniz bekommt diese Dynamik in Deutschland natürlich nur indirekt und zeitversetzt mit, doch er schreibt immer wieder, wie sehr diese Kampagne ihn aufgerichtet hat und ihm Hoffnung gegeben hat, auch wenn sich manchmal die schlechten Nachrichten häuften und die Haftdauer schier unendlich schien.
Das Buch ist aber nicht nur eine Geschichte über Haft, Folter und Repression, nicht nur eine Geschichte über politische Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Autokraten, es ist zugleich eine Liebesgeschichte. Mit großer Offenheit erzählt Deniz Yücel über seine Liebe zu seiner heutigen Frau Dilek, die er gar nicht so lange vor seiner Verhaftung erst kennengelernt hatte, die durch seinen Knastaufenthalt zunächst auf eine harte Probe gestellt wurde, dann aber mit einer Heirat im Gefängnis immer mehr zur entscheidenden Stütze für ihn wurde.
Kleine Kompromisse
Allerdings auch mit einem enormen Konfliktpotenzial, das Deniz immer wieder genau beschreibt. Denn sein Credo ist „Ich werde mich nicht brechen lassen“ und „Ich werde mir nicht den Mund verbieten lassen“. Wo Deniz auf Konfrontation setzt, plädiert Dilek häufig eher für Zurückhaltung. Und wenn Deniz, manchmal in allzu deutlicher Pose des Kämpfers, meint, selbst wenn er deshalb länger sitzen muss, werde er sich doch den Mund nicht verbieten lassen, geht es Dilek in erster Linie darum, dass er endlich rauskommt, auch wenn das vielleicht einen kleinen Kompromiss miteinschließt.
Es kommt zu herzzerreißenden Szenen zwischen den beiden, immer noch zusätzlich erschwert dadurch, dass eine direkte Kommunikation kaum möglich ist und bei Besuchen im Gefängnis entweder eine Trennscheibe das Paar eben trennt oder aber ein Aufseher so penetrant heranrückt, dass ein wirklich intimes Gespräch auch wieder nicht möglich ist.
Deniz Yücel reflektiert diesen Konflikt ausführlich, was das Buch eben auch sehr anrührend macht und es weit über ein reines Gefängnistagebuch hinaus auszeichnet. Er weiß, dass er manchmal auf Kosten seiner großen Liebe handelt, aber er glaubt nicht anders aufrechten Ganges wieder aus dem Knast herausgehen zu können.
Dank Angela Merkel
Obwohl er zeitweilig nach außen hin den Eindruck erweckt, die Bundesregierung würde ihn zu einem Objekt eines Tauschhandels machen, und er sein Credo dagegensetzt: „Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung“, berichtet er im Buch darüber, wie dankbar er letztlich doch Kanzlerin Angela Merkel und dem damaligen Außenminister Sigmar Gabriel ist, dass sie sich beide intensiv für seine Freilassung eingesetzt haben.
Er sieht in Gabriels Drohung an Erdoğan, Hermes-Kredite für deutsche Unternehmen in der Türkei zu begrenzen und so die Investitionen aus Deutschland in der Türkei herunterzufahren, oder massive Warnhinweise für Türkeireisende auszusprechen und nicht zuletzt die Ausweitung der Zollunion zwischen Türkei und EU zu blockieren, wenn die Erdoğan-Regierung ihre Haltung nicht ändert, als entscheidenden Wendepunkt in den deutsch-türkischen Beziehungen und auch seiner Knastgeschichte an.
Deniz Yücel ist im letzten Jahr im Februar nach einjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen worden. War das nun auch ein Signal, dass sich die Repressionspolitik der Erdoğan-Regierung insgesamt geändert hatte? Im Februar 2018 war das ganz sicher noch nicht der Fall. Wie Deniz Yücel selbst schreibt, wurden noch am selben Tag seiner Entlassung andere, in der Türkei sehr berühmte Journalisten, zu lebenslanger Haft verurteilt.
Das Buch: Deniz Yücel: "Agentterrorist. Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie". Erscheint am 10.10.2019 bei Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, Preis Deutschland: 18,99 €
Bekannte Menschenrechtler, Friedensaktivisten und Teilnehmer an den Gezi-Protesten sitzen immer noch in Haft, teilweise seit knapp zwei Jahren, und das Regime zeigt keinerlei Anzeichen, diesen Leuten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Es hat allerdings ein anderes, überaus wichtiges Signal in der türkischen Politik gegeben. Gut ein Jahr nach der Haftentlassung von Deniz Yücel, im März 2019, hat Erdoğan bei landesweiten Kommunalwahlen seine ersten massiven Niederlagen an den Wahlurnen erlitten. Dass er nach einer erzwungenen Wahlwiederholung im Juni 2019 auch noch Istanbul, die wichtigste Stadt des Landes, krachend an die Opposition verlor, bestätigt, dass der Herbst des Patriarchen begonnen hat.
Und die deutsch-türkischen Beziehungen? Vor wenigen Tagen hat VW bekannt gegeben, dass der Konzern zur Freude Erdoğans ein großes Autowerk in der Türkei bauen wird. Kritische Reaktionen in der bundesdeutschen Politik sucht man vergebens, im Gegenteil. Anfragen des Autors dieses Artikels bei diversen Politikern blieben unbeantwortet. Mit Kritik an einer deutschen Großinvestition in der Türkei macht man sich heute in Deutschland offenbar schon wieder unpopulär. Den Präsidenten am Bosporus wird das freuen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“