Deniz Yücel über die Absurdität der Haft: Klagt mich endlich an
270 Tage ist Welt-Korrespondent Deniz Yücel in Haft, ohne Anklageschrift. Er hat eine Einzelzelle, muss allein Fußball spielen und seinen Strom selber zahlen.
Doris Akrap darüber, wie dieses Interview entstand: „Am Dienstag sind es neun Monate, die Deniz hinter Gittern verbringt. Als ich ihn das letzte Mal in Istanbul besuchte, im Oktober 2016, musste er ins Krankenhaus, weil ihm der Blinddarm entfernt wurde. Als ich ihn das letzte Mal sah, am 27. Februar im Justizpalast von Istanbul, wurde ihm die Freiheit genommen. Nach zweiwöchigem Polizeigewahrsam wurde er von sechs Wärtern vor das Büro des Staatsanwalts geführt. Der Haftrichter entschied in dieser Nacht, Deniz müsse in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe: Terrorpropaganda und Volksverhetzung. Die Begründung: zwei Texte, die in der „Welt“ publiziert wurden. Seitdem habe ich mit Deniz nicht mehr gesprochen.
Ich kenne ihn seit dem Abitur in den frühen Neunzigern. Als ich 2003 mein erstes Interview für eine seriöse Zeitung führte (für die Jungle World, mit dem türkisch-deutschen Rapper Killa Hakan) war Deniz mein Redakteur. Sein wichtigster Rat: „Interviews sind auch ein Text. Du musst versuchen, eine Geschichte zu erzählen“. Seitdem habe ich einige Interviews mit Leuten, die irgendwas mit der Türkei zu tun haben, geführt. „Langsam hast du genug zusammen für ein Buch: Doris’ lustige Türken-Interviews“, sagte Deniz irgendwann. Ein Interview mit ihm selbst, weil er im Gefängnis sitzt, war darin nie vorgesehen.
Dieses Interview ist auf ungewöhnliche Weise entstanden. Meine Fragen habe ich schriftlich über Deniz’ Anwälte gestellt und Deniz hat sie über die Anwälte schriftlich beantwortet. Meine Rückfragen und seine Antworten dazu gingen dann auf demselben Weg noch zwei Mal hin und her. Dazwischen lagen jeweils mehrere Tage.
Meine Fragen, so hoffe ich, sind auch die Fragen, die Leser interessieren, die Deniz nicht so gut kennen. Sicher bleiben tausend Fragen offen. Vor allem die, die ich nicht stellen konnte, weil er sie nicht beantworten kann: Deniz, wann wirst du das Meer sehen?“
taz am wochenende: Deniz, wie geht es dir?
Deniz Yücel: Och, ganz okay. Danke der Nachfrage. Obwohl noch immer keine Anklageschrift vorliegt, weiß ich ja, weshalb ich eingesperrt bin: weil ich, so meine ich mir einbilden zu können, meinen Job als Journalist ordentlich gemacht habe. Und obwohl ich in Einzelhaft sitze, weiß ich, dank der vielen Menschen, die sich für mich und für meine inhaftierten Kollegen einsetzen, dass ich nicht alleine bin. Das hilft mir sehr.
Du hast im Juni in der Welt beschrieben, dass es auch im Knast so was wie ein Wochenende gibt. Alltag im Gefängnis – wie sieht der bei dir aus: Gehst du jeden Abend um die gleiche Uhrzeit schlafen? Fragen die Wärter dich morgens, wie es dir geht? Schneidest du so wie Paulie in deinem Lieblingsfilm „Goodfellas“ den Knoblauch mit der Rasierklinge?
Silivri Nr. 9 ist ein Hochsicherheitsgefängnis; es gibt hier nichts, das du aus „Die Verurteilten“ oder „Orange Is the New Black“ kennst – keinen gemeinsamen Hofgang, keine Gemeinschaftsduschen, keinen Essenssaal. Und natürlich keine Rasierklingen. Es kommt auch niemand, um abends das Licht abzuschalten, sodass ich wie gewohnt spät zu Bett gehe; meistens gegen zwei Uhr nachts. Dafür muss ich den Strom selber bezahlen.
Wie bitte? Aber Miete musst du nicht bezahlen?
Nee, nur Strom. Einmal im Monat kommt die Rechnung. Die Aufseher schließen morgens die Tür zu meinem kleinen Hof, nehmen Anträge und Einkaufslisten entgegen und schauen natürlich nach, ob noch alle da sind. Dann sind sie immer in Eile, ebenso, wenn sie abends zum Abschließen und Nachschauen kommen. Bei anderen Gelegenheiten plaudern wir schon, etwa wenn sie mich zum Anwaltsgespräch begleiten. Wenn ich mir aus den wöchentlichen Einkäufen im Knastladen etwas Warmes zu essen zubereiten oder das Gefängnisessen aufbessern möchte, bleibt mir nur der Dampf aus dem Wasserkocher und ein Gurkenglas. Hier würden auch Paulies Kochkünste an ihre Grenzen stoßen. Apropos: Wenn du selber als Geisel genommen wirst, vergeht dir die Lust auf Mafiageschichten.
Als du am 1. März ins Gefängnis von Silivri überstellt wurdest, sagte mir dein Anwalt Veysel Ok, dass es dir dort besser gehen werde als in dem Schmuddelknast Metris in Istanbul: „Er kann dort Freunde finden.“ Hast du welche gefunden?
wurde vor 44 Jahren in Flörsheim am Main geboren. Acht Jahre lang war er Redakteur bei der taz, 2015 ging er für die Welt als Korrespondent in die Türkei. Seit neun Monaten ist er dort in Haft.
Meine Anwälte leisten unter auch für sie persönlich schwierigen Bedingungen großartige Arbeit. Aber Veysel konnte nicht ahnen, dass ich in Einzelhaft kommen würde. Dafür gibt es nämlich sonst kein anderes Beispiel; in Istanbul bin ich der einzige Journalist in Einzelhaft. Normalerweise bedeutet Einzelhaft übrigens auch keine völlige Isolation, es gibt Sport in größeren Gruppen, und für einige Stunden in der Woche kann man sich mit anderen Gefangenen seiner Wahl zusammenschließen lassen. Mit dem Ausnahmezustand wurden diese Dinge abgeschafft. Immerhin: Seit Mai werden im Gefängnis Silivri Nr. 9 die Gefangenen in Einzelhaft für eine Stunde in der Woche auf den kleinen Sportplatz gelassen.
Du kannst jetzt also Fußball spielen?
Nein. Denn anders als meine Nachbarn – meist ehemalige Richter und Polizeioffiziere – bin ich sogar dort alleine. Vorteil: Ich verlasse den Platz stets als Sieger – könnte auch für den HSV oder die türkische Nationalmannschaft ein interessantes Modell sein. Ich glaube, stattdessen habe ich draußen viele neue Freunde gefunden. Hier drinnen aber nur einen: den Richter in der Nachbarzelle, mit dem ich mich brüllend von Hof zu Hof unterhalten kann, ohne dass wir uns je sehen würden.
Ist der Richter noch da?
Ja. Er hat zwölf Monate auf seine Anklageschrift gewartet und weitere vier auf die Prozesseröffnung. Eines muss ich dazu sagen: Ich halte nicht alle 4.500 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch entlassen wurden und von denen etwa die Hälfte verhaftet wurde, für unschuldig. So manche haben sich als Anhänger der Gülen-Organisation in den politischen Verfahren des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht und gehören tatsächlich auf die Anklagebank – zusammen mit den Verantwortlichen in der Regierung, die diese Prozesse gefördert und unterstützt haben. Anderseits sitzen viele Richter in Haft, die mit alledem nichts zu tun hatten. Das gilt auch für meinen Nachbarn.
Du wartest seit über acht Monaten auf deine Anklageschrift. Sind die Staatsanwälte überfordert oder lassen sie sich absichtlich Zeit?
Türkische Staatsanwälte haben in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie beides können: sowohl seriöse Anklageschriften als auch fantastische Literatur. In den Verfahren gegen die unmittelbar am Putschversuch beteiligten Militärs und Zivilisten haben sie – soweit ich das aus der Medienberichterstattung beurteilen kann – nicht nur überzeugende Beweise für die individuelle Tatbeteiligung vorgelegt, sondern auch für die federführende Rolle der Gülen-Organisation. Dennoch sind viele Fragen im Zusammenhang mit dem Putschversuch unklar. Grob gilt: Je mehr sich die Anklageschriften von den Vorgängen in jener Nacht entfernen, umso dünner werden sie. In den Anklageschriften gegen Journalisten, oppositionelle Politiker und kurdische oder linke Aktivisten zählen rechtsstaatliche Prinzipien oder bloß Logik und Vernunft wenig. Die Fantasie ist so groß wie die Schamgrenze niedrig. An Überforderung kann es also nicht liegen. Allerdings liegt die Initiative auch nicht bei der Staatsanwaltschaft. Ein Wort vom Chef und Anklageschrift, Prozesseröffnung und Freilassung laufen in Rekordzeit, wie wir das bei Peter Steudtner und den anderen Menschenrechtsaktivisten gesehen haben.
Du meinst, Freilassung ist Chefsache?
Deniz Yücel, Journalist
Ja. Schließlich hatte sich der Staatspräsident öffentlich zum Chefankläger aufgeschwungen. Dasselbe hat er bei mir gemacht, bei den Oppositionspolitikern, bei Selahattin Demirtaş, und zuletzt beim Unternehmer und Bürgerrechtler Osman Kavala.
Sind die Spatzen, die im Frühjahr in deinem Hof genistet haben, noch da?
Die Spatzen haben ihr Nest in der Sicherheit eines Hochsicherheitsgefängnisses gebaut. Und als die Brut groß genug wurde, sind sie ausgeflogen. Die sind ja nicht doof, die Spatzen.
Sind die Wärter überrascht, dass du immer noch da bist?
Silivri Nr.9 ist eine Art Promiknast; die meisten Häftlinge, für die sich eine größere Öffentlichkeit interessiert, sitzen hier. Vor ein paar Jahren waren hier İlker Başbuğ, der vormalige Generalstabschef der türkischen Armee, und andere ranghohe Militärs inhaftiert. Heute sitzt hier zum Beispiel Hüseyin Avni Mutlu, während der Gezi-Proteste 2013 Gouverneur von Istanbul. Ich glaube, die Aufseher in Silivri Nr. 9 wundern sich über gar nichts und haben noch mehr als alle übrigen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes folgende Wahrheit verinnerlicht: Das hier ist Türkiye, hier kann jederzeit alles passieren. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Aufseher Angst haben, etwas falsch zu machen. Ein Angstregime richtet sich nicht allein gegen Kritiker, sondern umfasst auch die Angehörigen des Unterdrückungsapparats. Vollzugsbeamte, Richter, hohe Beamte, sogar Regierungspolitiker – jeder hat Angst. Nur einer nicht. Oder besser: Er hat noch mehr Angst als alle anderen, weil er weiß, was ihm blüht, falls er die Macht verlieren sollte. Und darum unterwirft er eine ganze Gesellschaft seinem Angstregime.
Im Juli hast du in einem Text für die Welt geschrieben: „Türkei-Korrespondent müsste man jetzt sein.“ Wie viel von dem, was deutsche Medien über die Türkei schreiben, kriegst du mit?
Ich freue mich, dass die deutsche Öffentlichkeit weiterhin so großen Anteil an den Geschehnissen in der Türkei nimmt. Und ich bin meiner Zeitung, der Welt, und den Kolleginnen und Kollegen in allen deutschen Redaktionen dankbar, die mich nicht vergessen. Die deutschen Medien verfolge ich eher indirekt über die türkischen. Meine Anwälte bringen mir manchmal wichtige Artikel mit.
Von den Zeitungen, die du derzeit abonniert hast: Welche hat den besten Sportteil?
Unabhängig von der politischen Ausrichtung und egal, ob sie nur eine oder gleich fünf Sportseiten haben – die türkischen Zeitungen sind alle sehr fußballistisch, wie es mein Freund und früherer Tischnachbar Jan Feddersen formulieren würde. Sportfeuilleton, das ich gerne lese, gibt es so gut wie gar nicht. Dafür habe ich die 11 Freunde, die mir mein Freund Imran regelmäßig schickt. Die gefällt sogar der „Bildungskommission“, die alle Druckwerke überprüft, die mir geschickt werden. Die einzige deutsche Zeitung, die ich regelmäßig erhalte, ist die taz. (Dass ich jemals in den Genuss eines taz-Knastabos kommen würde, hätte ich auch nicht gedacht, vielen Dank dafür. Und liebe taz-Leserinnen und -Leser, vielen Dank für die Geburtstagsgrüße!) Außerdem schickt mir Chefredakteur Tim Wolff regelmäßig die Titanic. Beim ersten Mal waren die Aufseher sehr misstrauisch. Ich habe dann gesagt: „Das sind ein paar Jungs aus Frankfurt, die machen immer so Witze.“ Das hat die Wärter überzeugt. Seither läuft die Übergabe reibungslos.
Du hast dir von deiner Schwester Ilkay vor ein paar Monaten Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ mitbringen lassen. Hast du extra dick bestellt, weil man nie weiß, wie lang so ein Gefängnisaufenthalt dauern kann?
So ungefähr. Allerdings muss ich gestehen, dass ich das Buch noch immer nicht angefangen habe zu lesen. Vielleicht ein Fehler. Denn womöglich verhält es sich so wie mit der Zigarette beim Warten auf den Bus: Zündest du sie dir an, kommt er sicher.
Die mächtigsten Krieger, heißt es in „Krieg und Frieden“, sind Zeit und Geduld. Du musst sehr viel Zeit rumkriegen und Geduld aufbringen. Was an deiner Situation in der Einzelhaft macht dir am meisten Sorgen?
Isolationshaft ist Folter. Auch wenn ich eigentlich guter Dinge bin, kann ich nicht absehen, welche langfristigen Folgen das haben wird. Nur eine Folge ahne ich bereits: Ich werde jeden vollquatschen, der mir über den Weg läuft. Am meisten wird das natürlich Dilek ausbaden müssen. Dabei tut sie jetzt schon so unendlich viel für mich. Und ich glaube, diese Haftbedingungen haben auf alle eine ähnliche Wirkung, auch auf weniger gesprächige Menschen.
Besser Türkisch: Lange unterlag Deniz Yücel im Gefängnis einer Postsperre. Mittlerweile erhält er vereinzelt Sendungen. Briefe auf Türkisch scheinen bessere Chance zu haben. Die Welt lässt Briefe an schreibdeniz@weltn24.de kostenlos übersetzen.
Seine Adresse im Gefängnis: Ilker Deniz Yücel, Silivri Kapalı Ceza İnfaz Kurumu, 9 Numarali Koğuş, B6/54 Silivri Istanbul. Jeder Brief bedeutet ihm sehr viel. Haben Sie Verständnis, dass er vorläufig nicht antworten kann, da er keine Briefe schreiben darf. Und schicken Sie bitte keine Fotos oder Bücher.
Die taz setzt am Dienstag Rauchzeichen: Treffpunkt ab 18 Uhr vor dem taz-Café in der Rudi-Dutschke-Straße: Rauchen für Deniz.
Trotzdem: Immer wieder fragen mich Leute, ob Einzelhaft gerade für jemanden wie dich, der so gerne redet, besonders hart ist.
Das wirst du mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe mal gelernt: Man muss ja nicht immer reden. Ansonsten schreibe ich lange Texte. Anfang kommenden Jahres wird in der Edition Nautilus mein neues Buch erscheinen. Titel: „Wir sind nicht zum Spaß hier“. Eine Auswahl aus meinen Texten in der Welt, der taz und der Jungle World. Dazu zwei neue Beiträge und einen Beitrag von meiner Frau Dilek.
Und du hast ja noch deine Anwälte, richtig?
Oh ja. Und zum Glück unterlagen meine Gespräche mit den Anwälten nie irgendwelchen Beschränkungen. Zu mir kommen nicht nur meine eigenen, sondern auch Anwälte, die hier andere Mandanten betreuen, setzen mich regelmäßig auf ihre Besuchslisten. Und manche fahren nur aus Solidarität achtzig Kilometer nach Silivri, auch wenn sie im engeren Sinne mit keiner Verteidigung betraut sind. Die Anwälte sind die stillen Heldinnen und Helden dieser Epoche der türkischen Geschichte. Soweit mir bekannt, hat die schwierigsten Haftbedingungen der Journalist Nedim Türfent zu ertragen. Der Mitarbeiter der inzwischen per Erlass geschlossenen prokurdischen Nachrichtenagentur Diha sitzt seit 17 Monaten im Gefängnis, ein Jahr davon in Einzelhaft; lange Zeit bekam er weder Zeitungen noch Bücher. Für seinen Fall würde ich mir eine größere internationale Aufmerksamkeit wünschen. Der nächste Prozesstag ist am 17. November in Hakkari im äußersten Südosten des Landes. #FreeNedim.
Dein Anwalt hat in deinem Namen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde über deine Inhaftierung eingelegt. Das Gericht hat den Fall mit Vorrang behandelt und der Türkei eine letzte Fristverlängerung für ihre Stellungnahme bis zum 28. November gewährt. Was erhoffst du dir von diesem Gericht?
Nach all der Verschleppungstaktik der türkischen Seite hoffe ich, dass der Gerichtshof nun zügig handelt. Also dass der Gerichtshof für die überschaubare Anzahl von Journalisten und Abgeordneten, deren Klagen er bevorzugt zu behandeln beschlossen und in deren Fällen er die türkische Regierung zur Stellungnahme aufgefordert hat, ein Urteil zur Inhaftierung spricht. Und danach werde ich gespannt sein, ob die türkische Regierung ein Urteil aus Straßburg zur Haftentlassung befolgen wird. Das türkische Verfassungsgericht hat sich ja komplett abgemeldet. In anderen aktuellen Verfahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bislang zugunsten der türkischen Regierung entschieden – etwa im Fall der zehntausenden entlassenen Lehrer und anderer Beamter. Die hat man auf eine Kommission in der Türkei verwiesen. Das hat viele türkische Oppositionelle enttäuscht. Ich verstehe diese Enttäuschung. Doch ich weiß auch: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde gegründet, um einzelne Menschenrechtsverletzungen zu korrigieren; nicht, um das Abdriften eines Landes in den Faschismus aufzuhalten.
„Der Witz hat einen Bart. Beenden Sie diese Komödie“, hat Musa Kart, der angeklagte Karikaturist der Cumhuriyet, in seiner Verteidigung den Richtern gesagt. Als was, glaubst du, werden die derzeitigen Gerichtsverfahren gegen Journalisten in der Türkei in die Geschichte eingehen?
Deniz Yücel, Journalist
Als Schande. Wie die mit gefälschten Beweisen geführten Prozesse der Gülenisten-Justiz in den Jahren 2007 bis 2011. Oder die Prozesse der Militärjunta nach dem Putsch von 1980, in denen man mit systematischer körperlicher Folter Geständnisse aus den Angeklagten herauszupressen versuchte. Die Frage ist nicht, ob ein autoritäres Regime zusammenbricht; die Frage ist, welche womöglich irreversiblen Schäden es bis dahin am Schicksal Einzelner, an der Gesellschaft, an der Natur und am kulturellen Erbe anrichtet.
Der beste Präsident wo gibt hat in einem Interview mit Giovanni di Lorenzo in der Zeit über die Deutschen gesagt: „Sie gehen schlafen, Sie wachen auf und sagen: Deniz“. Er hat recht. Sollten wir besser die Klappe halten, damit er das Interesse an dir verliert?
Eine berechtigte Frage. Aber ich glaube, die Antwort lautet: nein. In den letzten Monaten hat er sich kaum noch über mich geäußert. Trotzdem hat sich an meiner Lage nichts verändert. Darüber, was in den Köpfen anderer Leute vorgeht, können wir nur spekulieren. Aber ich weiß, wie es mir gehen würde, wenn die Öffentlichkeit mich vergessen würde: nicht so gut.
Du hast kurz nach dem Putschversuch Ende Juli 2016 in der Welt einen Kommentar geschrieben, der den Titel trug: „Vielleicht fällt Erdoğans Diktatur ja doch aus.“ Hast du dich geirrt?
Dilek meinte damals, ich würde die Dinge nur deshalb rosig sehen, weil ich in sie verliebt sei. Das weise ich natürlich zurück – also nicht das Verliebtsein, sondern dass ich mich in meinen politischen Einschätzungen von solchen persönlichen Gefühlen leiten lasse. In diesem Text Anfang August 2016 habe ich Indizien in aller Vorsicht zusammengetragen. Das Wort „Vielleicht“ stand nicht zufällig in der Überschrift.
Anfang Oktober hast du in deiner Dankesbotschaft für den Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien von einem „teilzeitfaschistischen Regime“ gesprochen. Auf welche Kraft sollte man setzen, damit sich die politische Situation wieder in Richtung Teilzeitdemokratie entwickelt?
Die große Frage lautet, ob sich die unterschiedlichen, teils gegensätzlichen politischen Kräfte – Sozialdemokraten, säkulare Nationalisten, Kurden, Liberale, Sozialisten, Kemalisten, Islamisten außerhalb der AKP – auf ein gemeinsames Minimalprogramm verständigen können, das meines Erachtens lauten muss: eine neue Verfassung, mit der das Referendum rückgängig gemacht wird und die das Erbe des Putsches von 1980 ersetzt. Das ist natürlich eine viel schwierigere Aufgabe, als wenn nur jeder für sich „Nein“ sagt. Eine nicht minder wichtige Frage lautet, ob in diesem Land unter diesen Umständen noch halbwegs freie und faire Wahlen stattfinden und eine einwandfreie Auszählung der Stimmen möglich sein wird.
Wird Erdoğan im Fall einer Niederlage seine Macht einfach abgeben?
Darauf wird die Opposition eine Antwort finden müssen. Doch wenn sie sich nicht zusammenrauft und eine Dynamik entfaltet und eine Erzählung entwickelt, die auch einen Teil der bisherigen AKP-Wähler anspricht, gerade das Heer der Armen und Arbeitslosen, dann wird sich diese Frage nicht stellen. Dann wird Erdoğan mit einem unsauberen Wahlkampf, aber mit einer sauberen Auszählung die wichtigste Wahl der türkischen Geschichte gewinnen.
Welche Farbe haben eigentlich die Wände deiner Zelle?
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Beige. Und die drei Stahltüren (zum Flur, in den Hof und ins Bad), der Fensterrahmen samt Stahlgitter und das Stahlbett: dunkelbraun.
Dunkelbraun sitzt jetzt auch im Bundestag. Schwarz-Gelb-Grün könnten die Farben der nächsten Bundesregierung sein. Gut oder schlecht für die Beziehungen Deutschland/Türkei?
Joschka Fischer sagte kurz nach der Bundestagswahl 1998: „Es gibt keine grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche Außenpolitik.“ Türkischen Oppositionspolitikern und vielleicht sogar so manchem AKP-Politiker muss ein solches Diktum geradezu traumhaft erscheinen. Denn die Türkei unter Erdoğan wollte einst nach Europa. Dann gab sie sich Träumereien von einem neuen Osmanischen Reich hin. Und seit Neuestem schwimmt sie in „eurasischen“ Gewässern. Eigentlich gibt es aber gar keine türkische Außenpolitik. Mit wem man sich gerade fetzt und mit wem man sich wann wieder versöhnt, folgt allein kurzfristigen innenpolitischen Erwägungen. Als Zustandsbeschreibung halte ich Fischers Satz für zutreffend, auch wenn er die Frage aufwirft, wer denn die deutsche Außenpolitik bestimmt, wenn nicht die durch demokratische Wahlen legitimierten Parteien. Ein weiterer deutscher Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat in seinen letzten Tagen in diesem Amt den sehr richtigen Satz gesagt: „Wir können es nicht verhindern, dass die Türkei in eine Diktatur abdriftet. Wir müssen dem aber auch nicht tatenlos zusehen.“ Die entscheidende Frage lautet also, was kann Deutschland, was kann Europa tun?
Wie lautet deine Antwort?
Ganz wichtig: die Zivilgesellschaft stärken. Und natürlich Druck ausüben. Aber das muss sitzen. Die EU-Beitrittsverhandlungen nicht abzubrechen, war zum Beispiel eine richtige Entscheidung. Das Einfrieren von EU-Geldern hingegen ist reine Symbolpolitik. Eine ganz schlechte Idee ist Starksprech – das ist etwa so erfolgversprechend, als würde man die Türken im Autokorso herausfordern anstatt im Biathlon. Auch keine gute Idee: Maßnahmen, die allein die Bevölkerung treffen wie der Visa-Beschluss der USA. Zuvor muss man aber die Frage beantworten, ob man bereit ist, auch bei den eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen Abstriche zu machen.
Der deutsche Außenminister behauptet, Exkanzler Gerhard Schröder hat mit dem türkischen Präsidenten über die Freilassung von Peter Steudtner verhandelt. Wenn du dir aussuchen könntest, wer über deine Freilassung verhandelt, wen würdest du wählen?
Ich will einen fairen Prozess. Und den am besten gleich morgen. Nicht mehr. Nicht weniger.
Es gibt zwar keine Märchenfee, die den Gefangenen drei Wünsche erfüllen kann, trotzdem: Was sind die drei wichtigsten Dinge, die du dir wünschst?
Ich nehme nur einen Wunsch: Gerechtigkeit. Alles weitere ergibt sich daraus. Und die beiden übrigen Wünsche hebe ich für später auf, einverstanden?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen